Distanz der Schlussfolgerung
Evolutionär gesehen verbrachten wir Menschen den Großteil unserer Zeit in Stämmen mit nicht mehr als 200 Menschen. Die Kultur und das Wissen in diesen Stämmen wurden vor allem durch Sprache und Erinnerung miteinander geteilt.
„In a world like that, all background knowledge is universal knowledge. All information not strictly private is public, period.” - Eliezer Yudkowsky in seinem Buch „Map and Territory”.
Man musste nicht jahrelang studieren, um das biologische oder technologische Wissen des Stammes aufzusaugen. Die meisten Personen hatten Zugriff auf einen recht ähnlichen Wissensschatz. Das erleichtert natürlich die Kommunikation – wenn ich etwas Neues entdecke, brauche ich nur meine Entdeckung zu schildern. Mein restliches Hintergrundwissen ist ohnehin schon in den Köpfen meiner Mitbürger.
Oder um es kurz zu machen: Mein Wissen und das Wissen meiner Mitbürger war evolutionär gesehen nicht viel mehr als eine Schlussfolgerung voneinander entfernt.
Das Problem: Heute ist das genaue Gegenteil der Fall und unser Gehirn hat sich nicht umgestellt.
Ein Physiker hat ein gänzlich anderes Hintergrundwissen als ein Ökonom oder Mechaniker. Eliezer Yudkowsky sieht darin einen essentiellen Grund für die oft mehr als mangelhafte öffentliche Bekanntmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Der Wissenschaftler ist derartig viele Schlussfolgerungen vom normalen Bürger entfernt, dass seine Basics Neuland für die Bürger sind. Das Resultat daraus ist unweigerlich Konflikt: Der Wissenschaftler hält den Bürger für dumm und der Bürger hält den Wissenschaftler für verrückt.
Das Problem lässt sich nur lösen, indem man die nötigen Schlussfolgerungen aufholt. Was für den einen offensichtlich ist, ist für den anderen eine revolutionäre Erkenntnis.
Wer revolutionäre Erkenntnisse teilen will, muss also Bereitschaft zeigen, eine große Distanz an Schlussfolgerungen zurückzulegen.
Zum Weiterlesen:
Yudkowsky, Eliezer: Map and Territory. Rationality: From AI to Zombies. Berkeley: 2018.