Emotionale Liquidität
Eine altbekannte Weisheit aus dem Finanzbereich besagt, dass die Irrationalität des Marktes mitunter länger anhält als die eigene Liquidität.
Bedeutet: Ich bin vollkommen überzeugt, dass eine Aktie unterbewertet ist.[i] Also investiere ich einen beachtlichen Teil meines Vermögens in diese Aktie. Ich brauche dieses Geld aktuell zwar nicht, werde aber in 10 Jahren wieder darauf zurückgreifen müssen.
Nun kann es passieren, dass meine Einschätzung völlig korrekt und die Aktie unterbewertet ist. Allerdings erkennt der Markt das erst nach 11 Jahren. Ich müsste also 11 Jahre durchhalten, um meinen Gewinn einzukassieren, kann aufgrund meiner finanziellen Mittel aber nur 10 Jahre durchhalten.
Genau das gleiche Phänomen gibt es auch auf einer emotionalen Ebene. Man startet ein ambitioniertes Projekt, geht einen unkonventionellen Schritt auf dem eigenen Lebensweg oder tritt mit einer konträren Meinung an die Öffentlichkeit.
Selbst wenn sich das Projekt als erfolgreich herausstellt, der Schritt auf dem Lebensweg der richtige ist und die eigene Meinung der Wahrheit entspricht, wird man anfangs mit einer hohen emotionalen Last umgehen müssen.
Von allen Seiten werden Zweifel kommen. Von den unkonventionellen Schritten wird einem abgeraten. Die konträre Meinung wird belächelt.
In all diesen Fällen braucht man emotionale Liquidität.[ii]
Denn die gesellschaftliche Haltung kann genau wie der Finanzmarkt enorm lang irrational bleiben.
Viele Projekte und konträre Ideen scheitern genau aus diesem Grund. Die Irrationalität der Gesellschaft hat länger angehalten als die eigene emotionale Liquidität.
[i] Für jene, die mit den Finanztermini nicht vertraut sind: Ich glaube, dass der Aktienkurs in Zukunft steigen wird und ich die Aktie dann mit hohem Gewinn verkaufen kann.
[ii] Der Begriff stammt ursprünglich von Khe Hy. Leider ist sein Artikel zum Thema nicht öffentlich zugänglich, sodass ich nur die Einleitung davon lesen konnte. Daher ist nicht klar, ob er mit dem Begriff dasselbe Phänomen verbindet, wie ich in diesem Artikel.