noah leidinger

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Ignoranz und Reue

Manchmal ist es vollkommen rational, sich nicht zu informieren. Bei unwichtiger oder schwer zugänglicher Information stellt Ignoranz ein vollkommen rationales Verhalten dar.

Wir Menschen entscheiden uns aber auch immer wieder für Ignoranz, obwohl die Information interessant und frei zugänglich ist.

Viele Eltern wollen vor der Geburt das Geschlecht ihres Kindes nicht wissen. Dabei könnten sie mit diesem Wissen besser für die Zukunft planen und Unsicherheit reduzieren.

Man will sich lieber die Wiederholung eines Sportevents ansehen, anstatt einfach das Ergebnis zu erfahren.

Es gibt Methoden, um die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung zu Beginn der Ehe mit recht hoher Gewissheit vorauszusagen. Viele Paare entscheiden sich gegen eine derartige Einschätzung ihrer Ehe.

Der berühmte Psychologe Gerd Gigerenzer sieht die Ursache dieser Verhaltensweisen in der Empfindung von Reue.[i]

Nehmen wir dazu das Beispiel der Scheidung. Das Paar kann im Grunde nur eine von zwei Informationen erhalten: Die Ehe wird irgendwann zerbrechen oder sie wird dem Test der Zeit standhalten.

Die zweite Information wäre natürlich äußerst erfreulich. Was aber, wenn das Paar die Information erhält, dass die Beziehung zerbrechen wird. Diese Information ist nicht wirklich hilfreich. Man wird die besten Ehejahre kaum genießen können, weil man immer mit dem baldigen Zerbrechen rechnen muss.

Darum entscheiden sich viele gegen derartige Informationen. Die negative Information ist weitaus schlechter als das Nichtwissen. Wir Menschen antizipieren diese Situation und lehnen die Information im Vorhinein ab – wir wollen vermeiden, dass wir unser Wissen später bereuen.

Natürlich ist dieses Phänomen nicht auf die Ehe beschränkt. Auch die Entscheidung, sich nicht ärztlich untersuchen zu lassen, um tödliche Diagnosen zu vermeiden, fällt in dieses Schema.

Bei positiven Informationen – wie dem Geschlecht des Kindes oder dem Sportevent – ist die Situation etwas anders. In diesem Fall will man vor allem die Chance einer positiven Überraschung bewahren. Natürlich spielt hier abermals die Reue eine Rolle. Man will nicht bereuen, dass man sich der Überraschung beraubt hat. Man will den Spannungsbogen aufrechterhalten.

Klingt erstmal nach einer netten Theorie. Was deutet aber auf ihre Richtigkeit hin?

Gerd Gigerenzer hat dazu zwei Studien mit insgesamt mehr als 2000 Teilnehmern durchgeführt. Eine Studie fand in Deutschland, die andere in Spanien statt.

Beim Kauf von Versicherungen spielt das Vermeiden von Reue eine entscheidende Rolle. Man kauft lieber eine zu teure Versicherung, als sich im Nachhinein über einen hohen unversicherten Schaden ärgern zu müssen.

Die Hypothese: Wer viele Versicherungen kauft, um Reue zu vermeiden, der wird oft auch zur willentlichen Ignoranz greifen. Und tatsächlich zeigen beide Studien einen relevanten Zusammenhang. Menschen mit mehr Versicherungen wollten tendenziell öfter im Raum des Unwissens verharren.

Auch beim Thema der Risikoaversion spielt die Vermeidung von Reue eine große Rolle. Risikoaverse Menschen bevorzugen einen sicheren Gewinn, gegenüber einem zufälligen Gewinn in einer Lotterie. Einer der Gründe dafür: Wenn ich die Lotterie wähle und weniger erhalte als beim sicheren Gewinn, so werde ich meine Wahl bereuen.

Wenn ich hingegen die sichere Option wähle, weiß ich gar nicht, wie die Lotterie ausgegangen wäre und fühle deshalb weniger Reue.

Die Hypothese: Menschen mit mehr Risikoscheue greifen öfter zur Unwissenheit, um Reue zu vermeiden.

Auch diese Hypothese konnte in beiden Studien bestätigt werden.

Zum Weiterlesen:

https://www.apa.org/pubs/journals/releases/rev-rev0000055.pdf

[i] Die Gedanken stammen aus seinem Paper „Cassandra’s Regret: The psychology of not wanting to know“.