Anstößig & Ungemütlich
Menschen, die sich von politischer Korrektheit eingeschränkt fühlen, werden in der Regel belächelt. Meist sind es ohnehin die privilegierten weißen Männer, die sich darüber aufregen – sie sind es nicht gewohnt, mit konträren Meinungen konfrontiert zu werden.
Denn die Sache scheint eindeutig. Man kann alles sagen und denken, solange man andere mit seinen Aussagen nicht verletzt. Man kann alles sagen, was der Wahrheit entspricht – nur falsche und anstößige Meinungen muss man zurückhalten.
„Ich bin absoluter Anhänger der politischen Korrektheit im Sinne einer Höflichkeits-, einer Anerkennungs-, einer Respektverpflichtung. Wenn man politische Korrektheit aber so versteht, dass man nichts Anstößiges mehr sagen darf, dann wird es eine ziemlich schreckliche Geschichte […].“ – Professor Jochen Hörisch im Zukunft-Denken-Podcast.
Wie Paul Graham aber richtig erkannt hat, reicht allein ein Blick in die Geschichte um zu erkennen, wie unfassbar gefährlich es ist, nur das Wahre und Unanstößige zu sagen. Denn immer in unserer Geschichte gab es in der Gesellschaft bestimmte fix verankerte Glaubenssätze, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten.
Wenn wir uns jetzt auf der aktuellen Wahrheit ausruhen, laufen wir Gefahr, unseren Aberglauben niemals loszuwerden. Wir laufen Gefahr, den intellektuellen Fortschritt zu stoppen.
Ich bin mir bewusst, dass die Argumentation recht lax wirkt. Sie wirkt lax, weil wir ja nicht wissen, welche Dinge heute wahr erscheinen, sich aber als Falschheit entpuppen werden. Sie wirkt auch deshalb lax, weil viele keine Ideen haben, die dem aktuellen gesellschaftlichen Rahmen der Korrektheit widersprechen würden.
Graham bezeichnet dieses Phänomen als Privileg der Orthodoxie. Ein konventioneller Denker kennt die Erfahrungen eines unkonventionellen Denkers nicht. In der Lebenserfahrung eines konventionellen Denkers sind alle wahren Ideen auch immer gesellschaftlich akzeptierbar. So ein Denker besitzt das Privileg der Orthodoxie.
Wie so oft mit Privilegien kann man sich nur schwer in jene hineinversetzen, die eine andere Lebenserfahrung besitzen. Deshalb wirkt ein unkonventioneller Denker, der sich über fehlende Freiheit beschwert, auf den konventionellen Denker eher lächerlich.
Die Lösung: Mehr Toleranz für anstößige, unhöfliche und ungemütliche Denker.
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
http://paulgraham.com/orth.html
http://paulgraham.com/conformism.html
https://quillette.com/2020/07/30/think-cancel-culture-doesnt-exist-my-own-lived-experience-says-otherwise/
https://podcast.zukunft-denken.eu/e/028-jochen_hoerisch_denkanstoessige_universitaet/