noah leidinger

View Original

Risiko und Reue – zweischneidiges Schwert

Viele Menschen sind risikoavers – bietet man ihnen einen sicheren Gewinn oder eine Lotterie mit einem gleichwertigen Gewinn an, so entscheiden sich die meisten für die sichere Variante.

Ein oft diskutierter Grund dafür: die Reue.

Wir Menschen wollen negative Emotionen vermeiden. Entsprechend versuchen wir auch zu vermeiden, dass wir Entscheidungen im Nachhinein bereuen.

Man bekommt nun folgendes Angebot: Entweder man wählt einen fixen Gewinn von 50€ oder man wählt eine Lotterie, bei der man in 60% der Fälle 100€ gewinnt und in 40% der Fälle gar nichts.

Viele entscheiden sich in diesem Fall für den sicheren Gewinn. Ist ja auch logisch: Wenn man die Lotterie wählt und dann leer ausgeht, wird man die Entscheidung bereuen. Wenn man aber den sicheren Gewinn wählt, weiß man ohnehin nicht, wie die Lotterie ausgegangen wäre.

Also führt die Angst vor Reue zu einem risikoaversen Verhalten.

Leider baut diese Schlussfolgerung auf einem empirischen Fehler auf, wie der niederländische Professor Marcel Zeelenberg in einigen Studien belegt.

In den Niederlanden gibt es eine Postleitzahl-Lotterie. Per Zufall werden immer einige Postleitzahlen ausgewählt. Wer in dem betroffenen Gebiet wohnt und ein Los gekauft hat, kann sich dann über einen Gewinn freuen.

Dieses System ist aus psychologischer Sicht ein wahres Meisterstück der Glücksspielunternehmen. Wieso? Weil die Reue in so einer Lotterie nicht zu risikoaversem, sondern zu risikofreudigem Verhalten führt.

Wenn plötzlich der Nachbar ein paar Millionen Euro gewinnt, wird man es bereuen, nicht das billige Lotterielos für einige Cent gekauft zu haben.

Reue führt also nicht gezwungenermaßen zu risikoaversem Verhalten – vielmehr hängt das Ganze von der Informationslage ab.

Genau das konnte auch Marcel Zeelenberg zeigen.[i] Menschen wählen die risikoreiche Lotterie im Normalfall nicht, weil sie die sichere Option kennen und die Entscheidung so im Nachhinein bereuen würden. Den Ausgang der Lotterie kennt man in der Regel nicht und kann die sichere Option deshalb nicht bereuen.

Wenn sich das aber wie bei der Postleitzahl-Lotterie umdreht und man sehr wohl weiß, wie die Lotterie ausgeht, dann entscheiden sich viele gegen die sichere und wählen stattdessen die risikoreiche Variante.

Und die Postleitzahl-Lotterie ist kein Spezialfall. Auch bei Investments an den Finanzmärkten kann man beispielsweise ganz genau beobachten, wie sich jene Produkte entwickeln, in welche man nicht investiert hat.

Zum Weiterlesen:

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/%28SICI%291099-0771%28199906%2912%3A2%3C93%3A%3AAID-BDM311%3E3.0.CO%3B2-S

https://pure.uvt.nl/ws/portalfiles/portal/641736/zeelenberg-1996_OBHDP.pdf

[i] In seinen Studien hat er die Teilnehmer immer vor die Wahl einer risikoarmen und einer risikoreichen Option gestellt. Nun gab es zwei Gruppen: Die erste Gruppe bekam im Nachhinein nur Informationen zum Ausgang der risikoreichen, die anderen nur Informationen zum Ausgang der risikoarmen Option. Und tatsächlich: Die Gruppe mit Informationen zur risikoreichen Option hat öfter zur risikoreichen Version gegriffen und vice versa. Auch in den Begründungen für ihre Entscheidung gaben viele Teilnehmer an, die Wahl im Nachhinein nicht bereuen zu wollen.