noah leidinger

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Wilde Probleme – Zahme Probleme

Wieso übernehmen in der Politik nicht endlich die Wissenschaftler? Die Sozialwissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Aufstieg erlebt – wieso werden unsere gesellschaftlichen Probleme nicht wissenschaftlich und endgültig gelöst?

Man sollte die Probleme unserer Gesellschaft endlich so angehen, wie man auch Probleme im Ingenieurswesen und den Naturwissenschaften angeht. Die Situation analysieren, nachdenken, Hypothesen aufstellen, Experimente durchführen und Lösungen finden.

Klingt einfach, ist aber unmöglich. In ihrem viel zu wenig beachteten Paper „Dilemmas in a General Theory of Planning“ stellten Horst Rittel und Melvin Webber schon 1973 fest, dass klassische Problemlösungsmethoden bei den komplexen Problemstellungen von Wirtschaft, Politik und Umwelt versagen.[i]

„We shall want to suggest that the social professions were misled somewhere along the line into assuming they could be applied scientists- that they could solve problems in the ways scientists can solve their sorts of problems. The error has been a serious one.” – Horst Rittel und Melvin Webber in ihrem Paper „Dilemmas in a General Theory of Planning”[ii]

Im Gegensatz zu den zahmen Problemen der Naturwissenschaften und des Ingenieurswesens hat man es in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit wilden Problemen zu tun. Wilde Probleme sind niemals klar abgesteckt, haben keine eindeutigen Lösungen, sind durch Ambiguität geprägt und weisen in vielen Fällen chaosartiges Verhalten auf.

Das Problem beginnt schon in der Formulierung der Problemstellung. Denn in komplexen Systemen wie der Wirtschaft ist alles mit allem verbunden. Eine Sache führt zur nächsten. Eine kleine Änderung an Stelle X führt zu einer großen Änderung an Stelle Y.

Dadurch ist die traditionelle Vorgehensweise, die mit einer Problemdefinition beginnt und mit einem Lösungsvorschlag endet, gar nicht möglich. Diese Probleme definieren sich nämlich durch ihre Lösungen. Nehmen wir das Problem der Armut. Um das Problem zu definieren, muss man sich die Ursachen von Armut ansehen. Sobald man einmal alle Ursachen kennt – was unmöglich ist – kennt man im Grunde auch die Lösung. Die Lösung besteht darin, die Ursachen anzugehen. Das wiederum setzt aber nur eine weitere Iteration in Gang, da man für jede der Ursachen einen ähnlichen Prozess durchlaufen muss.

Hieraus ergibt sich eine weitere wilde Eigenschaft solcher Probleme: es ist niemals klar, auf welcher Ebene man ansetzen soll, da jedes Problem mit diversen größeren und diversen kleineren Problemen zusammenhängt. Auch hören diese Probleme nie auf. Man ist niemals „fertig“, die Dinge entwickeln eine Eigendynamik und die Lösungen müssen sich ständig mit- und weiterentwickeln.

Dadurch gibt es auch keinen eindeutigen Test, der zeigt, ob etwas falsch oder richtig war. Die höchste Erwartungshaltung an eine Lösung kann Verbesserung sein. Die perfekte Lösung wird man nie finden und selbst wenn man sie findet, kann man nicht erkennen, dass es die perfekte Lösung ist.

Auch die subjektive Komponente spielt bei solchen Problemen unweigerlich eine entscheidende Rolle. Aufgrund der Unmenge an Ursachen und Lösungen, gibt es nicht die eine richtige Erklärung. Verschiedene Ansätze und Modelle haben ihre Legitimität – zu einer Eindeutigkeit wird man nie gelangen.

Dazu kommt die hohe Sensitivität wilder Probleme. Ein einziger falscher Schritt wirkt sich mitunter überproportional auf das gesamte System aus und führt zu Konsequenzen, die man nicht rückgängig machen kann.

Die Lösung wilder Probleme hat dabei nichts mit einem Mangel an Expertise zu tun. Wilde Probleme entspringen der Komplexität der zugrundeliegenden Thematik und sind damit eine systematische Eigenschaft – sie können also ganz prinzipiell nicht perfekt gelöst werden.

Zum Weiterlesen und Weiterhören:

https://link.springer.com/article/10.1007/BF01405730

https://podcast.zukunft-denken.eu/e/010-komplizierte-komplexitat/

[i] Das Paper ist gemessen an seiner wissenschaftlichen Resonanz sicherlich erfolgreich. Dieses Thema sollte mittlerweile aber eigentlich Einzug in die Schulbücher und Lehrpläne bekommen haben.

[ii] Die unzureichende Beachtung hat wahrscheinlich auch mit diesem Zitat zu tun und der Beobachtung, die Upton Sinclair einst so treffend formulierte: “It’s very hard to get a man to believe non-X when his way of making a living requires him to believe X.”