noah leidinger

View Original

Zur Hölle mit Nuancen

Der Ideenraum ist voll mit falschen Theorien reichend vom Distributed Idea Supression Complex über Kayfabes bis hin zum Goodharts Gesetz.

All diese Theorien sind überaus interessant, bieten einen hilfreichen Denkrahmen und vereinen verschiedene Phänomene in einem einzigen Konzept. Doch natürlich wird niemand Schwierigkeiten haben, auf die vielen fehlenden Details aufmerksam zu machen. Ein einziges und prägnantes Konzept kann der realen Welt nie gerecht werden.

Doch genau darum geht es auch gar nicht. Diese Theorien haben ja gerade das Ziel, eine gewisse Abstrahierung vorzunehmen. Das Ziel ist also mehrere Phänomene zusammenzufassen, die Gemeinsamkeiten zu erkennen und Details auszulassen.

Dennoch ist gerade in Bereichen wie der Soziologie der Fokus auf die fehlenden Nuancen besonders stark ausgeprägt – eine Tendenz die Kieran Healy in seinem Paper „Fuck Nuance“ scharf kritisiert.

Laut Healy geraten immer mehr theoretische Denker in eine der drei Nuance-Fallen. Denn eine interessante und geistreiche Theorie aufzustellen, ist nicht einfach. Es gibt keine klaren Regeln oder Vorlagen, die systematisch zu spannenden Denkkonzepten führen.

Wenn man dann einmal eine Theorie gefunden hat, ist man äußerst angreifbar. Niemand wird Schwierigkeiten haben, kleine Fehler oder Gegenbeispiele zu finden. Auch werden sich diverse Intellektuelle zu Wort melden, um auf die vielen Details hinzuweisen, die in der Theorie fehlen.

In Anbetracht dieser Tatsachen fallen viele Denker in die erste Nuance-Falle – die Falle der Empirie. Wer einfach nur beschreibt, was ist, muss weder intensiv über neue Theorien nachdenken, noch muss er sich der Kritik aussetzen. Er hat nur beschrieben und kann so nicht falsifiziert werden.

Die zweite Falle geht in eine ähnliche Richtung. Es handelt sich um die Falle des konzeptuellen Rahmens. Man baut derartig viele Details und Ausnahmen in die Theorie ein, dass sie nicht falsifiziert werden kann. Die Theorie wird so nuanciert gestaltet, dass jedes Phänomen der realen Welt auch irgendwie in die Theorie passt.

Das Interessante dabei: Die Theorie wird durch die vielen Nuancen zwar immer größer und komplizierter, schrumpft aber in ihrer Aussagekraft auf ein Minimum.

Gerade in einer Welt von Twitter und Co. spielt auch die dritte Nuance-Falle eine stetig wichtigere Rolle: die Falle des Connaisseur. Man baut möglichst viele Details in die eigene Theorie ein, um zu zeigen, mit welch hoher Intelligenz man die Gesamtlage analysiert hat. Man benutzt die Nuancen nicht, um die eigene Theorie weiterzubringen, sondern um die Komplexität und Raffinesse des eigenen Denkens zu demonstrieren.

„We are glutted with nuance. I say, fuck it.” – Kieran Healy.

Zum Weiterlesen:

https://www.gwern.net/docs/philo/2017-healy.pdf

Dalio, Ray: Principles. New York: 2017.