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Lüge des Alters

Der Philosoph Vilém Flusser hat mich kürzlich auf etwas aufmerksam gemacht, das absolut offensichtlich und enorm wichtig ist, ich bisher aber noch nie bedacht habe: Es ist eine große Dummheit, das eigene Leben in Zeiteinheiten zu messen.

„Es hat mich immer gestört, daß man die Lebensdauer von Menschen objektiv mißt in Jahrzehnten, Jahren, Monaten. Ich glaube, das ist ein Maßstab, der für das Erleben und das Erleiden völlig ungeeignet ist. Es gibt Abschnitte, die sehr intensiv sind, die voller Erlebnisse sind, und es gibt andere, die ziemlich öde verlaufen.“ - Vilém Flusser im Gespräch mit Patrik Tschudin.

Ich kann ein Jahrzehnt am gleichen Ort wohnen, demselben Job nachgehen, dieselbe Routine verfolgen. Ich kann ein Jahrzehnt um die Welt reisen, verschiedenste Projekte durchführen und täglich Neues ausprobieren.

Diese beiden Jahrzehnte als äquivalente Lebensjahrzehnte anzusehen, ist eine ziemliche Dummheit.

Neben der Intensität des eigenen Lebens, sind auch die verschiedenen Kategorien entscheidend. Der Denker Tim Urban nennt in diesem Zusammenhang die Beziehung zu seinen Eltern:

„I’ve been thinking about my parents, who are in their mid-60s. During my first 18 years, I spent some time with my parents during at least 90% of my days. But since heading off to college and then later moving out of Boston, I’ve probably seen them an average of only five times a year each, for an average of maybe two days each time. 10 days a year. About 3% of the days I spent with them each year of my childhood.” – Tim Urban in seinem Artikel „The Tail End”.

Wenn ich in meinen ersten 18 Lebensjahren 90% der Tage zumindest teilweise mit meinen Eltern verbringe, habe ich mit 19 Jahren gut 5900 Tage mit meinen Eltern verbracht. Nehmen wir an, die eigenen Eltern leben nach dem 18 Lebensjahr noch weitere 50 Jahre – was eine durchaus optimistische Einschätzung ist. Wenn ich in eine andere Stadt oder gar ein anderes Land ziehe, verbringe ich pro Jahr vielleicht 20 Tage mit meinen Eltern. Ergibt 1000 Tage.

Mit 18 Jahren befindet man sich also – bezogen auf die Beziehung zu den eigenen Eltern - im letzten Siebtel des Lebens.[i]

Zum Weiterlesen:

Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalsozialismus. Berlin: 2000. [ii]

https://waitbutwhy.com/2015/12/the-tail-end.html

[i] Natürlich ist auch hier wieder die Intensität zu beachten. Die alltäglichen Begegnungen mit meinen Eltern während meiner Kindheit sind wahrscheinlich weniger intensiv – weil viel weniger besonders – als die selteneren Begegnungen mit meinen Eltern im Erwachsenenalter.

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