Vier Quadranten der Konformität
Dies ist die übersetzte Version des englischsprachigen Artikels „The Four Quadrants of Conformism“ von Paul Graham, der im Juli 2020 erschienen ist.
Einer der aufschlussreichsten Wege, um Menschen zu klassifizieren, ist gemäß dem Grad und der Aggressivität ihrer Konformität. Man stelle sich dazu ein kartesisches Koordinatensystem vor, dessen horizontale Achse von einem konventionellen Denker auf der linken bis zu einem unabhängigen Denker auf der rechten Seite reicht. Die vertikale Achse reicht von passiv am unteren bis hin zu aggressiv am oberen Ende. Die resultierenden vier Quadranten definieren vier Typen an Menschen. Geht man die Quadranten von oben links gegen den Uhrzeigersinn durch: aggressiv konventioneller Denker, passiv konventioneller Denker, passiv unabhängiger Denker und aggressiv unabhängiger Denker.
Ich glaube, dass man in den meisten Gesellschaften alle vier Typen findet und dass der Quadrant, in dem ein Mensch sich befindet, mehr von seiner eigenen Persönlichkeit als von der Geisteshaltung der jeweiligen Gesellschaft abhängt.[i]
Junge Kinder bieten den besten Beweis für beide Thesen. Jeder, der in der Volksschule war, konnte diese vier Typen beobachten. Der Fakt, dass Regeln in der Schule oft recht willkürlich sind, zeigt außerdem, dass die Quadranten vor allem mit der Persönlichkeit zusammenhängen und weniger mit den konkreten Regeln.
Die Kinder im linken oberen Quadranten, die aggressiv konventionellen Denker, sind klassische Petzen. Sie glauben nicht nur, dass man den Regeln gehorchen muss, sie wollen auch, dass jene, die gegen Regeln widerstoßen, bestraft werden.
Die Kinder im linken unteren Quadranten, die passiv konventionellen Denker, sind die Schafe. Sie versuchen, alle Regeln zu beachten. Aber wenn andere Kinder die Regeln nicht beachten, machen sie sich als erstes Sorgen darüber, dass die anderen Kinder bestraft werden, anstatt die Bestrafung der anderen zu zelebrieren.
Die Kinder im rechten unteren Quadranten, die passiv unabhängigen Denker, sind die Träumer. Sie kümmern sich nicht um die Regeln und wissen wahrscheinlich gar nicht zu 100%, wie die Regeln überhaupt lauten.
Die Kinder im rechten oberen Quadranten, die aggressiv unabhängigen Denker, sind die unartigen Schüler. Wenn sie eine Regel sehen, ist ihr erster Impuls, die Regel zu hinterfragen. Alleine, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen, reizt sie dazu, das Gegenteil zu tun.
Wenn man die Konformität misst muss man sich natürlich fragen, worauf sich die Konformität bezieht und das ändert sich, wenn Kinder älter werden. Für junge Kinder sind das die Regeln der Eltern. Aber wenn die Kinder älter werden, wird der eigene Freundeskreis zur Quelle der Regeln. Eine Gruppe von Teenagern, die die Schule schwänzen, sind also nicht unabhängige Denker; ganz im Gegenteil.
Bei den Erwachsenen erkennt man die vier Typen an ihren unterschiedlichen Ausrufen, genau wie man vier Vogelarten an ihren Pfiffen erkennen kann. Der Ausruf des aggressiv konventionellen Denkers lautet: „Besiege <die andere Gruppe>!“ (Es ist ziemlich alarmierend, dass das Ausrufezeichen hinter einer Variable steht, aber genau das ist das Problem mit den aggressiv konventionellen Denkern). Der Ausruf des passiv konventionellen Denkers lautet: „Was werden die Nachbarn denken.“. Der Ausruf des passiv unabhängigen Denkers lautet: „Jedem das seine.“. Und der Ausruf des aggressiv unabhängigen Denkers lautet: „Eppur si muove.“.
Die vier Typen sind nicht gleich häufig. Es gibt mehr Passive als Aggressive und viel mehr konventionelle als unabhängige Denker. Also sind die passiv konventionellen Denker die größte Gruppe und die aggressiv unabhängigen Denker die kleinste.
Da der eigene Quadrant mehr von der eigenen Persönlichkeit abhängt, als von den Gesetzen in der jeweiligen Gesellschaft, würden die meisten Menschen, wenn sie in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen wären, dort auch denselben Quadranten besetzen.
Der Princeton-Professor Robert George schrieb dazu kürzlich:
„I sometimes ask students what their position on slavery would have been had they been white and living in the South before abolition. Guess what? They all would have been abolitionists! They all would have bravely spoken out against slavery, and worked tirelessly against it.”
(Manchmal frage ich meine Studenten, wie sie früher als weißer Amerikaner im Süden der USA zur Sklaverei gestanden hätten. Die Reaktion meiner Studenten? Sie wären alle gegen Sklaverei gewesen! Jeder von ihnen hätte mutig und tapfer gegen die Sklaverei angekämpft.)
Er ist zu höflich, um es zu sagen, aber natürlich hätten sie das nicht getan. Tatsächlich darf unsere Grundvermutung nicht lauten, dass sich seine Studenten im Durchschnitt so verhalten hätten, wie die Menschen der damaligen Zeit. Vielmehr wären aggressiv konventionellen Denker von heute auch die aggressiv konventionellen Denker von damals gewesen. In anderen Worten: Sie hätten nicht gegen Sklaverei gekämpft, sondern hätten zu den aggressivsten Verteidigern der Sklaverei gehört.
Ich bin in dieser Hinsicht zugegebenermaßen etwas befangen, aber mir scheint, als ob die aggressiv konventionellen Denker für einen überproportionalen Anteil des Schadens in der Welt verantwortlich sind und dass viele der Normen, die wir seit der Aufklärung etabliert haben, entwickelt wurden, um den Rest von uns vor den aggressiv konventionellen Denkern zu schützen. Im Spezifischen die Abschaffung des Konzeptes der Ketzerei und dessen Ersetzung durch das Prinzip, alle möglichen Ideen frei zu debattieren - sogar jene Ideen, die aktuell als inakzeptabel angesehen werden und ohne Bestrafung für jene, die ausprobieren, ob die inakzeptablen Ideen funktionieren.[ii]
Aber warum müssen die unabhängigen Denker beschützt werden? Weil sie alle neuen Ideen haben. Um ein erfolgreicher Wissenschaftler zu sein, reicht es nicht, Recht zu haben. Man muss Recht haben, wenn alle anderen falsch liegen. Konventionelle Denker können das nicht. Aus den gleichen Gründen, sind erfolgreiche Startup-CEOs nicht nur unabhängige Denker, sondern aggressiv unabhängige Denker. Es ist also kein Zufall, dass Gesellschaften nur zu dem Maß florieren, zu dem sie Normen haben, um die konventionellen Denker im Zaum zu halten.[iii]
In den letzten Jahren haben viele von uns bemerkt, dass die Normen, welche die freie Erforschung von Ideen beschützen, geschwächt wurden. Manche sagen, dass wir überreagieren – dass sie gar nicht so stark geschwächt wurden oder, dass sie im Namen eines größeren Zieles geschwächt wurden. Letztere Aussage kann ich sofort verwerfen. Wenn die konventionellen Denker die Oberhand ergreifen, sagen sie immer, dass es im Namen eines größeren Ziels passiert. Es stellt sich nur heraus, dass es immer ein inkompatibles größeres Ziel ist.
Zur ersten Aussage, dass die unabhängigen Denker überreagieren und dass die freie Erforschung von Ideen gar nicht geschwächt wurde, kann man nur sagen, dass man die Sachlage nicht bewerten kann, wenn man nicht selbst ein unabhängiger Denker ist. Man kann nicht wissen, wie sehr der Raum an Ideen eingeschränkt ist, wenn man die Ideen an den Ecken und Kanten nicht hat – und nur die unabhängigen Denker haben die Ideen an den Ecken und Kanten. Genau deswegen tendieren sie dazu, sehr sensibel in Bezug auf jene Veränderung zu sein, die verändern, wie frei man Ideen erforschen kann. Sie sind die Kanarienvögel in dieser Mine.
Die konventionellen Denker argumentieren – so wie immer – dass sie gar nicht die Diskussion aller Ideen einschränken wollen, sondern nur die Diskussion der schlechten Ideen.
Man müsste meinen, dass alleine aus diesem Satz schon hervorgeht, wie gefährlich das Spiel ist, das sie spielen. Aber ich werde es hier dennoch ausformulieren. Es gibt zwei Gründe, warum wir selbst „schlechte“ Ideen diskutieren müssen.
Der erste Grund ist, dass im Prozess der Aussortierung schlechter Ideen unweigerlich Fehler passieren. Umso mehr, weil keine intelligente Person diese Art der Arbeit machen will, also wird diese Arbeit von den Dummen gemacht. Und wenn in einem Prozess viele Fehler passieren, muss man eine gewisse Sicherheitsmarge haben. Das bedeutet in diesem Fall, weniger Ideen zu verbannen, als man eigentlich will. Aber das fällt den aggressiv konventionellen Denkern sehr schwer, zum einen, weil sie gerne sehen, dass andere bestraft werden – wie schon als Kinder – und zum anderen, weil sie untereinander konkurrieren. Beschützer des Status-Quo können nicht zulassen, dass Ideen im Grenzbereich existieren, denn das gibt anderen Beschützern die Chance, sie auf dem Gebiet der moralischen Reinheit zu überbieten, und vielleicht sogar den Schutz gegen sie zu richten. Anstatt also die Sicherheitsmarge zu bekommen, die wir brauchen, bekommen wir das Gegenteil: Ein race-to-the-bottom in welchem alle Ideen, die in irgendeiner Weise grenzwertig scheinen, verbannt werden.[iv]
Der zweite Grund warum es gefährlich ist, die Diskussion von Ideen zu verbannen, lautet, dass Ideen verwandter sind als man denkt. Das bedeutet, dass eine Einschränkung der Diskussion von bestimmten Themen nicht nur diese Themen beeinflusst. Die Restriktionen reichen in alle Bereich zurück, die mit der verbotenen Idee zusammenhängen. Und das ist keine Seltenheit. Denn die besten Ideen haben genau diese Eigenschaft: Sie haben Konsequenzen in vielen Bereichen, weitab von ihrem Ursprung. Ideen in einer Welt zu haben, wo manche Ideen verboten sind, ist wie Fußballspielen auf einem Feld, auf dem in einer Ecke ein Minenfeld liegt. Man spielt nicht einfach dasselbe Spiel auf einem Spielfeld mit einer unterschiedlichen Form. Man spielt auch in den sicheren Bereichen des Spielfeldes ein stark gedämpftes Spiel.
In der Vergangenheit haben sich die unabhängigen Denker geschützt, indem sie sich in einigen Plätzen versammelt haben – zuerst in den Gerichten, später in den Universitäten – wo sie zu einem gewissen Ausmaß ihre eigenen Regeln schreiben konnten. Plätze in denen Menschen mit Ideen arbeiten, haben in der Regeln Normen, um die freie Erforschung von Ideen zu beschützen, aus dem gleichen Grund aus welchem Halbleiterfabriken starke Luftfilter und Soundstudios eine gute Schallisolierung haben. In den letzten Jahrhunderten waren die Universitäten der sicherste Platz, wenn die aggressiv konventionellen Denker durch die Straßen gezogen sind.
Das mag dieses Mal aber nicht funktionieren, da die neuste Welle der Intoleranz leider in den Universitäten begann. Die Welle begann Mitte der 1980er und hat sich um 2000 wieder beruhigt, ist aber kürzlich durch die sozialen Medien wieder stärker geworden. Das scheint ein sehr unglückliches Eigentor des Silicon Valley zu sein. Obwohl die Menschen an den Schalthebeln im Silicon Valley fast alle unabhängige Denker sind, haben sie den aggressiv konventionellen Denkern ein Werkzeug an die Hand gegeben, das sie sich selbst nie erträumt hätten.
Auf der anderen Seite ist der Abfall der freien Erforschung von Ideen an den Universitäten nicht nur der Grund des Abgangs unabhängiger Denker sondern auch das Symptom davon. Menschen, die vor 50 Jahren Professoren geworden wären, haben nun andere Optionen. Sie können Finanzanalysten werden oder ein Startup gründen. Man muss auch unabhängig denken, um in diesen Bereichen Erfolg zu haben. Wären diese Menschen Professoren, hätten sie härter für die akademische Freiheit gekämpft. Vielleicht ist also das Bild der unabhängigen Denker, die vor den absteigenden Universitäten flüchten, zu dunkel. Vielleicht fallen die Universitäten deshalb immer stärker, weil so viele bereits weg sind.[v]
Obwohl ich lange Zeit über diese Situation nachgedacht habe, kann ich nicht voraussagen, wie sie ausgehen wird. Könnten manche Universitäten den aktuellen Trend umdrehen und zu Plätzen werden, wo die unabhängigen Denker zusammenkommen? Oder werden die unabhängigen Denker die Universitäten allmählich abstoßen? Ich mache mir große Sorgen darüber, was wir verlieren, wenn das passiert.
Aber langfristig bin ich zuversichtlich. Die unabhängigen Denker sind gut darin, sich zu schützen. Falls existierende Institutionen kollabieren, schaffen sie neue. Das mag Vorstellungsvermögen brauchen. Aber Vorstellungsvermögen ist schlussendlich ihre Stärke.
Paul Graham
[i] Ich weiß natürlich, dass wenn die Persönlichkeiten in beide Richtungen variieren, man diese als Achsen verwenden und die vier resultierenden Quadranten als Persönlichkeitstypen bezeichnen kann. Was ich also wirklich behaupte ist, dass die Achsen orthogonal sind und es auf beiden Achsen viel Variation gibt.
[ii] Die aggressiv konventionellen Denker sind nicht für den gesamten Schaden in der Welt verantwortlich. Eine andere große Quelle des Schadens sind charismatische Führer, die an die Macht kommen, indem sie an die aggressiv konventionellen Denker appellieren. Sie werden viel gefährlicher, wenn sie so einen Führer haben.
[iii] Ich machte mir nie Sorgen, Dinge zu schreiben, die konventionelle Denker beleidigen könnten, während ich Y Combinator geleitet habe. Wen YC ein Kekshersteller gewesen wäre, hätte ich eine schwere moralische Wahl gehabt. Konventionelle Denker essen auch Kekse. Aber sie starten keine erfolgreichen Startups. Also hielt ich sie davon ab, sich bei YC zu bewerben, was uns eine Menge Arbeit beim Lesen von Bewerbungen erspart hat.
[iv] Es gibt Fortschritt in einem Bereich: Die Bestrafungen für das Sprechen über verbannte Ideen sind weniger stark als in der Vergangenheit. Die Gefahr, getötet zu werden, ist zumindest in reichen Ländern recht gering. Die aggressiv konventionellen Denker geben sich schon damit zufrieden, Menschen rauszuwerfen.
[v] Viele Professoren sind unabhängige Denker – besonders in Mathematik, den Naturwissenschaften, dem Ingenieurswesen – Bereichen in denen man für Erfolg unabhängig denken muss. Aber Studenten sind eher repräsentativ für die gesamte Gesellschaft und daher großteils konventionelle Denker. Wenn also Studenten und Professoren einen Konflikt austragen, ist das nicht nur ein Generationenkonflikt, sondern auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Persönlichkeitstypen.