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Strategische Verstärkung – Journalismus und Plattformen

Wie viele Bereiche hat auch der Journalismus mit Normen zu kämpfen. Was gilt als Norm, was ist Zensur?

In der Technologiebranche rund um die sozialen Netzwerke und wichtigen Plattformen Twitter, Facebook und Co. hat sich der breite Konsens durchgesetzt, dass jede Norm, die das Publizieren von bestimmten Inhalten beschränkt, Zensur ist.

Im Journalismus spielt das Thema des strategischen Schweigens, also des Schweigens über Inhalte, die extremistischen Gruppierungen helfen und der Gesellschaft potentiell schaden, historisch eine große Rolle. Doch Journalisten, die sich immer mehr im Kampf um Aufmerksamkeit mit neuen Medien befinden, haben ihre Schwierigkeiten über Dinge zu schweigen, die ihre neuen Konkurrenten ausführlich behandeln.

Dennoch haben traditionelle Medien immer noch große Reichweiten und ihre Verantwortung nicht verloren. Wie können diese traditionellen Medien mit den neuen Plattformen zusammenzuarbeiten um einen offenen aber gleichzeitig ethischen Journalismus zu kreieren?

Genau mit dieser Frage haben sich Joan Donovan und danah boyd in ihrem Artikel „Stop the Presses? Moving from Strategic Silence to Strategic Amplification in a Networked Media Ecosystem.” auseinandergesetzt. Einige der Kerngedanken werden im restlichen Artikel beschrieben.

Strategisches Schweigen beschreibt den Mechanismus, mit welchem Journalisten und Herausgeber strategisch entscheiden, welche Informationen sie publizieren und welche sie verschweigen. Verschweigen, weil die entsprechenden Inhalte potentiell schädlich und gefährlich sind.

Doch in einer Zeit des Internets und der freien Plattformen erachten danah boyd und Joan Donovan das strategische Schweigen für nicht mehr zeitgerecht. Denn die Journalisten haben ihre Funktion der Kontrolle verloren.

Es muss also ein neues Konzept her. Ein solches Konzept ist das der strategischen Verstärkung, welches im angesprochenen Paper propagiert wird.

Strategisches Schweigen

Während das Thema der Normen immer ein sehr heikles ist, haben sich Journalisten schon lange auf gewisse Normen der ethischen Berichterstattung geeinigt. Besonders wichtig ist der Grundsatz, sich über die Menschen Gedanken zu machen, die von der Berichterstattung negativ betroffen sind. Einfach nur die Neugierde der Menschen, ohne Hinterfragen der Konsequenzen, zu bedienen, ist also nicht Journalismus.

Zu diesen Normen gehört es auch, den sensationalistischsten Nachrichten nicht den größten Raum zu geben, wenn man sie berichtet. Diese Norm wird im Bereich der digitalen Plattformen, welche die Nachrichten auf Basis von aufmerksamkeitsgetriebenen Algorithmen filtern, vollkommen missachtet.

Dabei kann strategisches Schweigen wirklich positive Effekte haben. In den 1960er Jahren starteten neonazistische Bewegungen in den USA eine große Rekrutierungswelle. Einige Medienhäuser nahmen sich daraufhin die Bitte von verschiedenen jüdischen Interessensvertretungen zu Herzen, möglichst wenig über die Neo-Nazis zu berichten. Der Effekt? In den Städten in welchen diese Form des strategischen Schweigens eingesetzt wurde, hatten die Neo-Nazis große Schwierigkeiten neue Mitglieder zu bekommen.

Meinungsfreiheit

Die großen sozialen Plattformen berufen sich auf die freie Meinungsäußerung und stellen sich als neutral dar. Nur weil sie aber nicht aktiv nach bestimmten Normen filtern, sind sie noch nicht neutral. Diese Plattformen haben eine ganz klare Richtung – die Richtung des Sensationalismus. Was populär ist, was viral geht, was aufregt, das wird auf diesen Plattformen verstärkt.

Das Recht auf Meinungsfreiheit muss es freilich geben, doch das Recht eine Plattform zu bekommen, die die eigene Nachricht verbreitet, gibt es nicht.

Plattformen müssen beginnen mit gewissen gesellschaftlich akzeptierten Normen zu arbeiten. Dabei ist weder die Rede von Normen gegen links oder rechts, sondern von Normen gegen Gewalt und Hass.

Plattformen sollten den Inhalten und Produzenten mehr Raum geben, welche vernünftig und frei von Hass gegen andere sind. Das Recht verbreitet zu werden muss sich der Produzent auf der Plattform erst verdienen und zwar durch eine verantwortungsvolle Produktion von Inhalten.

Damit lässt man jedem die Chance seine Meinungen zu teilen und jeder hat auch weiterhin die Chance abseits von verschlossenen Institutionen öffentlich gehört zu werden. Doch es soll nicht mehr möglich sein, dass jemand mit hasserfüllten Botschaften von einem Tag auf den anderen Millionen an Menschen erreicht.

Conclusio

Ein von Normen getriebener Journalismus ist und bleibt für eine funktionierende Demokratie essentiell. Vielfach haben sich Medien etwas von diesen Grundsätzen entfernt, um im freien Kampf um die Aufmerksamkeit zu bestehen. Wenn Publikationen den Respekt und das Vertrauen wiederhaben wollen, welche sie früher hatten, dann müssen sie sich auch wieder auf Normen rückbesinnen.

Was die Plattformen betrifft bedeutet strategische Verstärkung keine Zensur. Aber die Algorithmen der Plattformen verstärken heute Nachrichten, die besonders viel Aufmerksamkeit aus sich ziehen. Das ist keine neutrale politische Haltung, sondern eine die zu Extremismus und Populismus führt. Eine neutrale Haltung für eine Plattform ist eine, im Zuge derer verantwortungsvolle Inhalte von allen politischen Seiten verstärkt werden insofern sie frei von Hass, Gewalt und Propaganda sind.

Je größer dabei Produzenten auf den Plattformen werden, je mehr Einfluss ein einzelner Produzent gewinnt, desto stärker muss dieser sich auch an gewisse ethische Normen halten und desto mehr muss er sich auch journalistischen Grundlagen verpflichten.

Eine Appell für Vorsicht

Während Joan Donovan und danah boyd sicherlich recht darin haben, dass man in einer gewandelten Medienwelt neue Normen des Journalismus entwickeln muss, die auch auf die immer wichtigeren Plattformen anwendbar sind, braucht es für diese Normen ein hohes Maß an Toleranz, welches den meisten fehlt.

Strategisches Schweigen und schlussendlich auch strategische Verstärkung können nämlich sehr leicht missbraucht werden, weil im Gegensatz zu beispielsweise falschen Nachrichten, nicht unbedingt offensichtlich ist, was eine Zeitung verschweigt und eine Plattform nicht verstärkt.

Deshalb müssen diese Normen sehr klar und transparent offengelegt werden.

Auch müssen diese Normen tolerant sein. Nur weil jemand keine Flüchtlinge aufnehmen will ist er also noch kein gefährlicher Rassist und nur weil jemand für das Klima protestiert ist er keine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wer sich im Rahmen der Menschenrechte und der Verfassung bewegt, auf alle Fälle jeder, der sich im Rahmen der offiziellen demokratischen Parteien bewegt, hat ein Recht darauf gehört zu werden.

Wer allerdings zu Gewalt aufruft, wer rassistische und menschenfeindliche Aussagen macht, dem muss man keinen Platz geben.

Normen ja, aber auch eine verstärkte Toleranz muss mit ihnen einhergehen.

Zum Weiterlesen:

https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jun/01/extremist-ideas-media-coverage-kkk

https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0002764219878229