Gang auf heißen Kohlen & Signale
Regionen wie Tamil Nadu im Süden Indiens waren für Evolutionstheoretiker lange Zeit ein großes Mysterium. Zu den üblichen religiösen Praktiken der Männer dieser Region gehört das Laufen auf heißen Kohlen oder das Durchstechen der eigenen Wangen mit Speeren und Messern.
Aus Sicht der evolutionären Fitness sind derartige Verhaltensweisen ziemlich absurd. Dennoch stellen solche Phänomene keine Seltenheit dar. Vielmehr sucht man vergeblich nach Stämmen oder Religionen, die keine evolutionär scheinbar kontraproduktiven Verhaltensmuster aufweisen.
Im Zuge der 1990er Jahre hat sich allerdings eine Erklärung für diese Phänomene etabliert: Derartige Rituale sind Signale, die von Stärke und gutem Charakter zeugen. Ähnlich wie der Pfau, der sich ein extravagantes Gefieder leistet, um den Weibchen seine Stärke zu beweisen.
Wie Jessica Barker et al. in ihrem Paper „Content, cost, and context: A framework for understanding human signaling systems“ beschreiben, muss man solche Signale allerdings differenzierter betrachten.
Die Not für kostspielige evolutionäre Signale – wie das Jagen nach Tieren, die schwer zu fangen sind, aber nicht wirklich viel Ertrag einbringen – entspringt einer Diskrepanz zwischen dem Sender und Empfänger einer Nachricht. Wenn der Empfänger – also beispielsweise die potentielle Partnerin – nicht sicher sein kann, dass ihr potentieller Partner es ernst meint, so braucht sie eine gewisse Bestätigung seiner Vertrauenswürdigkeit. Kostspielige Signale, bei denen der Partner seine Ressourcen opfert oder gar seine eigene Gesundheit riskiert, sind ein derartiger Vertrauensbeweis.
Allerdings beziehen sich Signale gerade in etwas komplexeren Gesellschaften nicht nur auf einen einzigen Empfänger. Durch seinen Gang über heiße Kohlen beweist der junge Mann aus Tamil Nadu nicht nur seine Attraktivität für potentielle Partnerinnen, sondern erwirbt sich auch Respekt in der restlichen Gesellschaft.
Auch gibt es nicht nur eine Form von Kosten. Es gibt zum einen Kosten, die direkt realisiert werden – bestes Beispiel sind exzessive Opfergaben zur Beschwichtigung der Götter. Es gibt Kosten, die direkt realisiert werden, sich aber auch auf die Zukunft auswirken – wenn ein junger Mann seine Wangen durchsticht, hat er für die nächsten Wochen und Monate mit den Wunden zu kämpfen. Schließlich gibt es auch Kosten, die in Form eines potentiellen Risikos existieren – wer beim Gang über heiße Kohlen ausrutscht, wird sich massive Verbrennungen zuziehen.
Zu guter Letzt ist wichtig zu bedenken, dass nicht jedes Verhalten im Sinne eines evolutionären Signals zweckstiftend ist. Beispielsweise ist kein evolutionäres Signal nötig, wenn Sender und Empfänger ohnehin die gleichen Interessen verfolgen, sodass man sich nicht auf die Ehrlichkeit des anderen verlassen muss. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass Signale zwar eigentlich evolutionär sinnlos sind, aber gleichzeitig nicht so schädlich, als dass sie durch Selektion gestoppt worden wären.
Insgesamt bietet die Signaltheorie ein sehr potentes Framework zum Verstehen von diversen Riten und Handlungen, die auf den ersten Blick keinen evolutionären Sinn ergeben. Tatsächlich ist das Denken in Signalen aber auch ein hilfreiches Werkzeug, wenn es um eigene Entscheidungen und Strategien geht. Beispielsweise kann die Vertrauensbasis in einer Verhandlung durch geschickte Signale so gestärkt werden, dass ein insgesamt besseres Ergebnis erreicht wird.
Zum Weiterlesen:
https://richard-sosis.uconn.edu/wp-content/uploads/sites/2243/2019/04/2019-Sosis-Content-cost-and-context.pdf