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Verurteilungswahrscheinlichkeit – Paradox

Man ist der Durchschnitt der fünf Menschen mit denen man die meiste Zeit verbringt – so eine weit verbreitete These auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung. Auch in der Kriminologie ist diese Erkenntnis keine Neuheit – Menschen, die im Freundes- oder Familienkreis von Kriminellen umgeben sind, neigen auch selbst viel stärker zu Kriminalität.

Zum einen ist Kriminalität für solche Menschen nicht negativ besetzt. Während eine Verurteilung für die meisten von uns auch einen Schaden im sozialen Umfeld bewirkt, kann sie in einem kriminalitätsnahen Umfeld sogar zu höherem Ansehen führen.

Wie bei allen anderen Themen verursacht die häufige Konfrontation mit Kriminalität außerdem einen Anstieg an Ideen. Wer also immer wieder illegale Handlungen beobachtet, wird auch selbst viele Chancen und Möglichkeiten entdecken, um sich durch rechtswidrige Aktionen zu bereichern.

Dazu kommt noch ein weiterer Faktor: Wie Helmut Hirtenlehner in seinem Paper „Does perceived peer delinquency amplify or mitigate the deterrent effect of perceived sanction risk?“ zeigt, stufen Menschen mit kriminalitätsnahem Freundeskreis die Chance einer Verurteilung als geringer ein.[i]

Das kommt höchstwahrscheinlich daher, dass ihre kriminellen Mitmenschen in vielen Fällen nicht bestraft wurden.[ii]

Nun liegt natürlich die Annahme nahe, dass sich Personen in einem solchen Umfeld generell keine großen Gedanken über die möglichen Konsequenzen machen. Während sich also die Angst vor Verurteilung bei Menschen ohne kriminellem Umfeld besonders stark auswirkt, spielt diese Angst bei Personen in kriminalitätsnahen Kreisen keine Rolle.

Doch diese Annahme scheint falsch zu sein – so die Conclusio von Hirtenlehner. Die Studienteilnehmer mit kriminalitätsaffinem Umfeld schätzten die Chance einer Verurteilung zwar als geringer ein, diese Einschätzung beeinflusste ihr Verhalten aber stärker.

Sprich: Unter den Personen mit keinem kriminellen Umfeld wirkte sich eine höhere Wahrnehmung der Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht auf das Verhalten aus. Nur weil also jemand die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung niedriger einschätzte, war er statistisch gesehen nicht krimineller.[iii]

Für diejenigen mit kriminalitätsnahen Freunden hatte die Wahrnehmung der Verurteilungswahrscheinlichkeit hingegen einen entscheidenden Effekt: Eine höhere wahrgenommene Chance von Verurteilung reduzierte das Maß an eigenen Straftaten.

Tatsächlich macht dieses Ergebnis auch intuitiv Sinn: Für die meisten von uns kommen bewusste Gesetzesbrüche ohnehin nicht in Frage. Unsere moralischen Werte, unsere Erziehung und unser Umfeld lehnen Kriminalität kategorisch ab. Ob es nun wahrscheinlicher ist, verurteilt zu werden oder nicht, spielt keine Rolle – wir denken im Regelfall ohnehin nicht darüber nach.

Bei Menschen mit kriminalitätsaffinem Umfeld ist das anders. Hier sind Straftaten sehr wohl eine Option, denn der eigene moralische Kompass steuert dem Reiz des Illegalen nicht entgegen. Plötzlich spielt die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung eine ganz entscheidende Rolle – ja, sie ist einer von wenigen Faktoren, die in so einem Umfeld gegen Kriminalität sprechen.[iv]

Zum Weiterlesen:

https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/01639625.2018.1426264

[i] Er zeigt das anhand einer Langzeitstudie mit 716 englischen Jugendlichen, die während der Studie zwischen 14 und 17 Jahre alt waren.

[ii] Auch kann es bspw. sein, dass Menschen ohne krimineller Vergangenheit ein zu ideelles Verständnis von der Effektivität der Exekutive besitzen.

[iii] Allerdings muss man hier vorsichtig sein: Dieses Ergebnis bedeutet vor allem, dass Maßnahmen, die die wahrgenommene Verurteilungschance erhöhen, für Menschen in kriminellen Kreisen effektiv sind. Es bedeutet aber nicht, dass sie in kriminalitätsfernen Kreisen unbedingt ineffektiv sind. Die meisten Menschen ohne kriminellem Umfeld lehnen Kriminalität kategorisch ab, darum spielt die Wahrnehmung der Verurteilungswahrscheinlichkeit keine Rolle. Natürlich gibt es aber manche Fälle in denen auch solche Personen über eine Straftat nachdenken. Wenn also ein Mensch ohne kriminellem Umfeld beginnt, Gesetzesbrüche als Option wahrzunehmen, ändert sich die Situation. Es kann nun sehr wohl sein, dass sich die wahrgenommene Verurteilungswahrscheinlichkeit auf ihn auswirkt. Das konnte man bisher aber noch nicht statistisch testen.

[iv] Wie viele andere Studien hat übrigens auch diese gezeigt, dass die Höhe des Strafausmaßes eine viel unbedeutendere Rolle spielt als die Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden.