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Zorn & Ärger - offene Frage

Eigentlich müssten Ärger und Zorn über die Handlung eines Mitmenschen ein ewiger Zustand sein. Wenn jemand zornig über eine meiner Handlungen oder Aussagen ist, dann kann dieser Zorn im Grunde nie mehr weichen, denn der Grund für den Zorn liegt in der Vergangenheit. Meine Handlung und Aussage kann ich nicht ungeschehen machen und so wird auch der Grund des Zornes für immer bestehen bleiben.

In der Praxis sind Zorn und Ärger aber meist nur vorübergehende Phänomene. Deshalb gehen andere davon aus, dass Zorn nur eine Methode ist, um ein Problem zu lösen. Laut dieser These ist Ärger ein motivierender Faktor, der dazu führt, dass man gegen etwaige Missstände vorgeht. Man ist auf jemanden nicht zornig weil er etwas getan hat, sondern weil er noch nichts aus seiner Handlung gelernt hat. Sobald er sich ehrlich entschuldigt, ist man auch bereit ihm zu vergeben. Der Zorn hat also eine lehrende und problemorientierte Funktion.

Die Philosophin Agnes Callard befindet sowohl das Modell des ewigen Zornes als auch das Modell des problemorientierten Zornes in ihrem Paper „The reason to be angry forever“ als unzureichende Erklärungen.

Zum einen ist die erste These des ewigen Ärgers eindeutig zu pessimistisch und entspricht nicht der Realität. Zum anderen scheint der problemorientierte Ärger viel zu pragmatisch. Wenn jemand zornig ist, ist das ein emotionaler Akt. Derjenige verfolgt in der Regel keine rationalen Ziele damit und ist meist auch nicht aktiv auf der Suche nach der Lösung, die den Ärger aufhebt.

Als Ursache dafür, sich überhaupt über ein negatives Ereignis echauffieren zu können, muss eine gewisse Verbundenheit mit diesem Ereignis bestehen. Der Ärger über ein negatives Ereignis entstammt also unserer Wertschätzung des gegensätzlichen positiven Ereignisses.

Wenn mir die Beziehung zu einer anderen Person wichtig ist, mich die Person dann aber schwer enttäuscht, kann ich meine Wertschätzung der Beziehung nicht mehr durch Wertschätzung der Person ausdrücken. Ich kann meine Wertschätzung der Beziehung nur mehr dadurch zeigen, dass ich enttäuscht und zornig darüber bin, dass die andere Person die Beziehung zerstört hat.

Wenn Zorn problemorientiert wäre, dann müsste der zornige Mensch ganz klare Bedingungen haben, mit denen das Problem gelöst und der Ärger verschwinden kann. Doch in der Regel ist das nicht der Fall. Man weiß nicht, was die andere Person tun muss, damit der eigene Zorn verfliegt. Man will, dass sich die Person darüber selbst Gedanken macht beziehungsweise ist man in vielen Fällen gar nicht mehr an einer Lösung interessiert und die Person muss mit seinem Handeln erst einmal zeigen, dass die Beziehung doch noch einen Wert hat.

Callard vergleicht das mit Fragen und Antworten. Wenn sie ihren Studenten Fragen stellt, dann kennt sie die Antwort. Sie verfolgt also einen problemorientierten Ansatz. Wenn sie jemandem eine ehrliche Frage stellt, dann kennt sie die Antwort aber nicht und ist erst auf der Suche nach einer passenden Lösung für die Frage.

Letztere Situation, so Callard, ist die Situation von Ärger und Zorn und die passende Antwort ist authentische Reue. Denn Reue über das eigene vergangene Verhalten entstammt derselben Quelle wie der Zorn. Die Reue kommt daher, dass man die Beziehung eigentlich wertgeschätzt hat, diese Wertschätzung kann man nun aber nicht mehr in der Beziehung selbst zeigen, da diese vorübergehend auf Eis gelegt wurde, also kann man die Wertschätzung nur durch Reue manifestieren.

Und an dem Punkt wo die zornige Person und die reumütige Person erkennen, dass sie doch noch eine gemeinsame Wertschätzung für die Beziehung haben, ist der Grund für Zorn und Ärger wieder gelöst. Denn der Ärger ist nur dadurch entstanden, dass man die Wertschätzung für die Beziehung nicht mehr in der Beziehung selbst ausdrücken konnte, welche ja zerstört wurde.

Ärger ist also nicht ewig, kann aber auch nicht konkret als problem- beziehungsweise lösungsorientiert betrachtet werden. Ärger entspringt einer ursprünglichen Wertschätzung für eine positive Sache und ist die Reaktion auf die gegenteilige negative Sache. Erst durch die Zusammenkunft des zornigen Opfers und des reumütigen Täters, kann die gemeinsame Wertschätzung wieder erkannt werden, sodass sowohl Reue als auch Ärger verloren gehen.

Zum Weiterlesen:

https://humanities-web.s3.us-east-2.amazonaws.com/philosophy/prod/2018-11/Callard%20Reason%20to%20Be%20Angry%20Forever%20Proofs.pdf