noah leidinger

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Menschen als Turbulente Strömung

Im Zuge der Haddsch, der islamischen Pilgerfahrt nach Mekka, sind am 12. Januar 2006 mehr als 360 Pilgerer in einer Massenpanik ums Leben gekommen. Das würde erstmal nicht überraschen. Viele Menschen auf engem Raum und irgendwann wird der Druck einfach zu groß. Es überrascht aber, weil es sich im Falle dieser Panik um einen offenen flachen Bereich ohne Gegenströmung handelte.

Die meisten Modelle von Fußgängerflüssen gehen davon aus, dass die Geschwindigkeit der Bewegung mit einem Anstieg der Dichte abfällt und irgendwann bei null landet, so wie man das auch bei Autostaus beobachtet. Wieso Menschenmassen bei einer sehr hohen Dichte an Personen plötzlich enorm turbulent werden und sich die Menschen gegenseitig in alle möglichen Richtungen stoßen, ist auf den ersten Blick schwer zu erklären.

Dirk Helbing et al. haben in ihrem Paper „The dynamics of crowd disasters: an empirical study“ den Haddsch-Vorfall aus dem Jahre 2006 mit Hilfe von Videomaterial analysiert und eine solche Erklärung gefunden.

Wenn an einem Ort eine Dichte von mehr als 6 Personen pro Quadratmeter herrscht, so sinkt der Fluss an Menschen an dieser Stelle circa um einen Faktor von 3. Der Ausfluss wird also bedeutend geringer als der Einfluss. Dadurch entsteht ein hoher Druck, was erklären würde, dass sich Menschen gegenseitig erdrücken. Allerdings ist damit noch nicht erklärt, wieso sich die Masse plötzlich so turbulent verhält – so waren viele Tode bei der Haddsch nicht auf zu starken Druck, sondern auf das Zusammentreten von gestolperten Personen zurückzuführen.

Doch die Videoanalyse der Wissenschaftler gibt Aufschluss. Sie hat gezeigt, dass sich die Geschwindigkeit der Passanten selbst bei einer enorm hohen Dichte niemals auf null reduzierte. Die Menschen hörten also nie auf, sich zu bewegen. Menschen verhalten sich in einem Massenstrom also nicht wie Autos in einem Stau.

Mit einer immer größer werdenden Dichte an Pilgern hat sich der Fußgängerstrom zuerst von einem durchgehenden Fluss auf eine Art stop-and-go Fluss reduziert. Als der Druck aber schließlich zu hoch wurde, kam es zu starken Koordinationsproblemen innerhalb der Masse. Manche Menschen haben einen Schritt zurück gemacht, während andere nach vorne traten und all die Einzelschritte liefen wie Schockwellen durch die gesamte Menschenmasse.

An diesem Punkt wurden die Menschen plötzlich unwillentlich von der Menge mitgerissen und haben die Kontrolle verloren. Die einzelnen Pilgerer wurden dabei wie durch Zufall in alle möglichen Richtungen bewegt. Um bei der Analogie von Flüssigkeiten zu bleiben, beschreiben Dirk Helbing und seine Kollegen diese Situation als Turbulente Strömung.

In dieser Turbulenten Strömung wird die Bewegung des Einzelnen durch die Bewegung der Masse ersetzt, sodass nicht mehr viele kontrollierte Einzelbewegungen zu der Bewegung der Masse führen, sondern im Grunde die Masse die Individuen bewegt, ohne das letztere das in irgendeiner Weise kontrollieren.

Dazu kommt, dass Menschen bei der teilweise extrem hohen Dichte, die im Zuge dieser Turbulenten Strömung entsteht, in Panik geraten und beginnen, sich voneinander abzustoßen, um Platz zu gewinnen. Dirk Helbing et al. sprechen in diesem Zusammenhang vom Druck innerhalb der Masse, der durch das Panikverhalten bei besonders hoher Dichte nochmals verstärkt wird.

Auch andere Wissenschaftler haben diese Phänomene bereits beobachtet und schreiben teilweise davon, dass Menschen wortwörtlich vom Boden gehoben und von der Masse mehrere Meter in irgendeine Richtung getragen werden.

Die positive Erkenntnis aus der Analyse ist, dass man die zukünftige Turbulenz schon in Phasen des stop-and-go Verkehrs vorhersagen konnte. Wenn man also hier eingegriffen hätte, wäre die Turbulente Strömung nie zu Stande gekommen.

Zum Weiterlesen:

https://arxiv.org/ftp/arxiv/papers/0708/0708.3339.pdf

https://arxiv.org/abs/physics/0701203v2