noah leidinger

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Lügen oder Schweigen – eine Frage der Perspektive

Dass man nicht lügen soll, weiß jedes Kind. Dass nicht lügen nicht immer möglich ist ebenfalls. Vor allem wenn es um prosoziale Lügen geht, also Lügen von denen der Angelogene profitiert, sind viele bereit dem Wahrheitsgebot zu widersprechen. Manche sind aber auch der Meinung, dass es besser ist einfach nichts zu sagen, anstatt jemanden anzulügen.

In dem ausführlichen Artikel „The Surprising Cost of Silence. Asymmetric Preferences for prosocial lies of commission and omission.” haben Emma Levine et al. sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche Art der Täuschung Menschen moralisch vertretbar finden.

Ist es moralischer jemanden prosozial anzulügen oder ist es moralischer einfach nichts zu sagen und gewisse Informationen vorzuenthalten?

Die Antwort, die sich aus sieben Experimenten mit insgesamt 3883 Teilnehmern ergab: Der Getäuschte wird lieber belogen, der Täuschende hält lieber den Mund.

In einem Experiment stellte man 797 Teilnehmer vor folgende Situation:

Der Doktor hat einem Patienten gesagt, dass er Leukämie hat, er aber noch mindestens 5 Jahre überleben wird. Danach hat der Doktor, ohne das Wissen des Patienten, einen weiteren Test angefordert und dabei festgestellt, dass der Patient maximal 1 bis 2 Jahre überleben wird, da er eine spezielle Form der Leukämie hat.

Der Doktor hat nun zwei Optionen. Er gibt dem Patienten entweder gar keine Informationen zu seiner Lebenserwartung mehr oder er erzählt ihm weiterhin, dass er für mindestens 5 Jahre weiterleben wird.

Die Teilnehmer, welche die Situation aus der Perspektive des Doktors betrachteten, empfanden das Anlügen negativer, als die Teilnehmer, die sich in der Position des Patienten befanden. Letztere wiederrum schätzten das Verschweigen der Informationen negativer ein als die Doktoren.

In einem weiteren Experiment stellte man 593 Teilnehmer vor folgende Situation:

Ein Unternehmen wird gerade restrukturiert und der Abteilungsleiter versichert seinen Mitarbeitern, dass sie keine Kündigungen zu befürchten hätten, was er vom Management auch so gehört hat. Dann ändert sich allerdings die Lage und die Manager teilen dem Abteilungsleiter mit, dass er einen Teil seiner Mitarbeiter feuern muss.

Der Abteilungsleiter hat nun einige Monate Zeit bis er die Mitarbeiter kündigen muss. Bis dahin kann er entweder gar nichts mehr über die Restrukturierung und die Kündigungen sagen oder seinen Mitarbeitern versichern, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, da es keine Kündigungen geben wird.

Wiederum empfanden die Teilnehmer, die sich in die Lage des Abteilungsleiters begaben, das Anlügen viel negativer, als das Schweigen. Im Gegensatz dazu fanden die Teilnehmer, die das Ganze aus der Perspektive der Mitarbeiter betrachteten, das Anlügen akzeptabler, als das Schweigen.

Und so konnte man über sieben Studien mit insgesamt 3883 Teilnehmern hinweg zeigen, dass die Täuscher und die Getäuschten eine ganz andere Einschätzung zum moralischen Wert von verschiedenen Arten der Täuschung haben.

Grund dafür ist eine egozentrische Sichtweise bei der Entscheidungsfindung. Die Täuschenden sehen es als sehr negativ an, aktiv lügen zu müssen. Die Getäuschten hingegen finden eine prosoziale Lüge akzeptabler, da sie unter anderem die guten Intentionen des Täuschenden wertschätzen.

Auch die Täuschenden sehen die positiven Effekte der Lügen, schätzen aber den Akt des Lügens als weitaus negativer ein, sodass sie schlussendlich lieber schweigen.

Zum Weiterlesen:

https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2910065

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29094962-the-surprising-costs-of-silence-asymmetric-preferences-for-prosocial-lies-of-commission-and-omission/