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Sowjetunion – die stille Erosion

Bis zur Mitte der 1980er Jahre rechnete niemand innerhalb und außerhalb der Sowjetunion damit, dass sie zerbrechen könnte. Doch schließlich erfolgte ein sehr abrupter, unerwarteter sowie fast widerstandsloser Zusammenbruch der Union.

Seither steht die große Frage im Raum, welche Bedingungen den Kollaps ermöglichten, ohne die Möglichkeit des Zusammenbruchs im Vorhinein zu offenbaren.

Die wohl bekannteste Erklärung geht vom Phänomen des Doppeldenkens und Doppelsprechens aus. Nach außen hin stellte man sich als im Einklang mit dem System dar, in eigenen Gedanken, der Familie und dem engen Freundeskreis hingegen hat man mit der Sowjetunion schon lange abgerechnet.

Doch diese Erklärung ist zu einfach, denkt Alexei Yurchak, ein in der Sowjetunion aufgewachsener Anthropologie Professor der University of California. Laut Alexei Yurchak ist die Erklärung des Doppelsprechens- und Denkens eine westliche, die davon ausgeht, dass in der Sowjetunion ohnehin alles so schlimm war, dass man in der Bevölkerung keine Befürworter mehr hatte.

Tatsächlich gab es laut ihm aber viele Bürger, welche das sozialistische System und seine Werte unterstützten, auch wenn sie in ihren alltäglichen Handlungen oft entgegen dieser Normen und Regeln agierten.

In seinem Paper „Soviet hegemony of form: Everything was forever, until it was no more.” sucht und findet er eine andere Erklärung für dieses Phänomen des imminenten aber stillen Zusammenbruchs.

In den 30 Jahren zwischen den mittleren 1950er und 1980er Jahren, gab es einen großen sprachlichen Umbruch in der Propaganda der Sowjetunion. Man begann nämlich um 1955 herum, weniger Fokus auf die inhaltliche Bedeutung der Sprache zu legen und mehr Bedeutung auf die genauen Formen und Phrasen. Im heutigen Sprachgebrauch würde man von einem Fokus auf Buzzwords sprechen, ohne, dass es wirklich wichtig ist, was sich hinter den Buzzwords versteckt.

Ursprünglich dachte man, durch den starken Fokus auf die Form jegliche Ambiguität aus den Nachrichten eliminieren, und eine starke Vereinheitlichung erreichen zu können. Man erachtete die Botschaft als automatischen Bestandteil der Formen und Phrasen und fokussierte sich dementsprechend fast ausnahmslos auf letztere.

Als Beispiel nennt Alexei Yurchak einen regimetreuen Sekretär, der nicht nur vom Regime, sondern auch von westlicher Rockmusik begeistert war. Er griff in seinen Texten für die westliche Rockmusik als Instrument der Jugenderziehung auf exakt dieselben Phrasen zurück, wie andere Organe der Partei, welche sich gegen diese Musik aussprachen.

Er spricht in seinem Text für die westliche Musik von einem „kompromisslosen Umgang mit der Ideologie und Moral der Bourgeoisie“. Exakt denselben Wortlaut hat eine sowjetische Zeitung ein Jahr zuvor in einem Artikel gegen die westliche Musik verwendet. Dabei darf man es nicht so verstehen, als ob sich der Sekretär mit seiner Uminterpretation der Phrase gegen das System gestellt hätte. Er war überzeugt vom System und erachtete seine Interpretation der Phrase als völlig systemstreu.

Als weiteres Beispiel nennt Alexei Yurchak einen Teenager der im privaten Briefwechsel mit einem Freund von seiner Liebe zum Kommunismus schreibt, davon, dass im Aufbau des Kommunismus seine Lebensaufgabe liege, im gleichen Atemzug aber die Beatles und Elvis Presley verherrlicht.

Der Fokus auf die Formen und Phrasen in der Sprache und auf das sichtbare Handeln im Einklang mit der Parteilinie erlaubte vielen Bewohnern der Sowjetunion, sich bis zum Schluss als gute sowjetische Bürger mit kommunistischen Idealen zu fühlen. Auf dieser Basis wirkte die Sowjetunion auch von innen heraus wie etwas Unbezwingbares. Gleichzeitig führte die ständige Uminterpretation der Phrasen und Formen dazu, dass ein sehr abrupter und widerstandsloser Zusammenbruch des Systems möglich und imminent war.

Zum Weiterlesen:

https://www.researchgate.net/publication/231992788_Soviet_Hegemony_of_Form_Everything_Was_Forever_Until_It_Was_No_More/link/00b4952a66f53e1d4f000000/download