Bei hoher Dichte kann Zeit nicht fliegen
Wenn Soldaten über konkrete Kampfhandlungen im Krieg berichten, spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Die Zeit, die in derartig tragischen und intensiven Situationen nicht zu vergehen scheint. Wenn Gefangene über Isolationshaft berichten, spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Die Zeit, die in Phasen der enormen Langeweile nicht zu vergehen scheint.
Eigentlich paradox. Sowohl sehr intensive Momente als auch Momente, die außerordentlich langweilig sind, zeichnen sich dadurch aus, dass unser Empfinden der Zeit sich verlangsamt.
Der US-amerikanische Soziologieprofessor Michael Flaherty beschäftigt sich schon seine gesamte Karriere intensiv mit der menschlichen Zeitempfindung und hat auch eine Lösung für das scheinbare Paradoxon.
Wie wir die Zeit empfinden hängt sehr stark von der Dichte unserer Erfahrungen ab. Die Erfahrungsdichte ist zum einen dann hoch, wenn man viel Neues und Intensives erlebt. Sie ist aber auch dann hoch, wenn man fast gar nichts erlebt. In beiden Fällen setzt man sich sehr intensiv mit der unmittelbaren Umgebung und oder mit sich selbst auseinander.
Erfahrungsdichte und damit auch das eigene Zeitempfinden hängen also entscheidend vom Involvement mit sich selbst und der Umgebung ab. Denn ein hohes Involvement sorgt nicht nur für ein stärkeres emotionales Empfinden, sondern erhöht auch die kognitive Komplexität der Situation, denn durch die verstärkte Wahrnehmung der Umweltfaktoren steigt die Anzahl an Reizen, denen wir bewusst ausgesetzt sind.
Was die Zeit hingegen schnell verfliegen lässt, sind Routine-Aktivitäten und Gewohnheiten, insofern sie einen ausreichend fordern, um Langeweile zu vermeiden. Die Zeit verfliegt dann schnell, wenn eine Situation routiniert komplex ist, wenn sie also nicht per se einfach ist, wir sie aber aufgrund unserer Erfahrung sehr einfach bewältigen.
In der Regel ist das Gefühl, dass die Zeit sehr schnell verfliegt, im Gegensatz zum Gefühl, dass die Zeit nur langsam vergeht, aber eher ein rückschauendes. Man blickt also auf die letzten Stunden, die letzten Tage, die letzten Monate oder die letzten Jahre zurück und wundert sich, wo all die Zeit geblieben ist.
Diese rückblickend sehr starke Zeitverkürzung ist mit unserem Gedächtnis zu erklären. Die meisten Ereignisse vergessen wir kurze Zeit nachdem wir sie erlebt haben. Rückblickend wirkt dann alles immer viel ereignisloser als es eigentlich war.
Wie Michael Flahertys Studien zeigen, ist das Empfinden für eine verzögerte Zeit vor allem bei Menschen rund um das 40ste Lebensjahr besonders ausgeprägt. Eine Theorie dafür ist, dass diese Phase des Lebens durch viel routinierte Aktivität geprägt ist. Im Gegensatz dazu, ist das Zeitempfinden zwischen jungen und alten Menschen nicht signifikant unterschiedlich, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass ältere Menschen der Langeweile und junge Menschen intensiven und neuartigen Erlebnissen ausgesetzt sind.
Zum Weiterlesen:
https://www.researchgate.net/publication/230230528_HOW_TIME_FLIES
https://www.weforum.org/agenda/2017/01/the-paradox-of-why-you-feel-time-either-flies-by-or-crawls