Einer ändert auch nichts mehr
«Nur weil ich kein Fleisch esse, sterben auch nicht weniger Tiere. Nur weil ich nicht fliege, wird der Klimawandel auch nicht gestoppt. Nur weil ich nicht rausgehe, wird die Infektionskurve von Covid-19 auch nicht flacher.»
Nach derartigen Statements entbrennt in der Regel eine hitzige Debatte über Moral, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Verantwortung für das große Ganze und so weiter und so fort. Dann kommt meist noch irgendjemand mit dem abgenutzten Zitat an, man solle einmal mit einer Mücke in einem Zelt schlafen, um zu erfahren, was ein kleiner Akteur mit seiner Handlung bewirken kann.
Die meisten Menschen wird man mit dieser hitzigen und verwirrten Argumentationskette schließlich davon überzeugen können, dass auch seine Handlung eine große Wirkung hat. Wozu gibt es schließlich eine Demokratie und das Wahlrecht für alle?
Doch einige Pragmatiker und Konsequentialisten wird man hiermit nicht überzeugen können. Sie sind der Meinung, und diese Meinung hat ja durchaus etwas für sich, dass eine Handlung nur dann schlecht ist, wenn sie auch zu einem negativen Resultat führt.
Kann man also als Konsequentialist tatsächlich rechtfertigen, sich in einer Art und Weise zu verhalten, die zwar schädlich ist, wenn sich alle so verhalten würden, im Einzelfall aber zu keinem Schaden führt?
Nein, sagt der Yale-Professor und Philosoph Shelly Kagan in seinem 2011 erschienenen Essay „Do I make a difference?“, denn solche Fälle gibt es gar nicht. Solche Fälle gibt es nicht nur in der Praxis nicht, sie kann es auch theoretisch gar nicht geben.
Nehmen wir als Beispiel die Smog-Situation in einer Stadt. Wenn kein Betrieb schädliche Abgase in die Lüfte ausstößt, gibt es offensichtlicherweise keinen Smog. Wenn alle Betriebe, sagen wir es sind 500, Abgase ausstoßen, ist die gesamte Stadt von Smog umhüllt. Ein Konsequentialist wird nun wie folgt argumentieren: Ein einziger Betrieb wird weder dafür sorgen, dass eine smog-freie Stadt vom Industrienebel umhüllt wird, noch dafür, dass die vernebelte Stadt vom Smog befreit wird. Seine Handlung hat also keine negativen Konsequenzen und ist an sich neutral. Da er aber beim Ausstoßen der Abgase keine Umweltauflagen einhalten muss und sich damit Geld sparen kann, ist die Handlung insgesamt positiv zu bewerten.
Sagen wir, der Konsequentialist hat recht. Wenn alle Unternehmen Abgase ausstoßen, dann gibt es Smog, wenn kein Unternehmen Abgase ausstößt, gibt es keinen Smog. Zwischen keinem Unternehmen und einem Unternehmen gibt es laut dem Konsequentialisten keinen Unterschied. Wenn also ein Unternehmen Abgase ausstößt bleibt der Status bestehen: kein Smog. Zwischen einem und zwei Unternehmen kann es abermals keinen Unterschied geben, also kein Smog. Wenn man das aber weitertreibt, dann kann es auch zwischen dem 50sten und 51sten Unternehmen keinen Unterschied und damit immer noch keinen Smog geben. Schlussendlich kann es auch zwischen dem 499sten und 500sten Unternehmen keinen Unterschied geben. Also kein Smog. Aber bei 500 Unternehmen gibt es natürlich Smog.
Es kann also nicht sein, dass ein Ablauf der bei kein Smog anfängt und bei Smog endet aus nicht erkennbaren Veränderungen besteht. An irgendeinem Punkt muss es eine Veränderung geben. Von hier ausgehend kann man entweder annehmen, dass jeder Schritt eine Veränderung bedeutet, womit der Konsequentialist sich geschlagen geben muss. Aber was, wenn es einen Trigger Moment gibt. Wenn, sagen wir, die ersten 50 Betriebe keinen Schaden anrichten, der 51ste aber schon, weil nach dem 51sten der Smog erstmals sichtbar wird.
Im Fall von Smog ist das natürlich nicht sehr realistisch, hier zeigt sich wohl eher, dass jeder Betrieb tatsächlich einen Einfluss hat, alles andere wäre rein logisch nicht möglich.
Aber es gibt auch Situationen, in denen die ersten n Handlungen tatsächlich harmlos sind die n+1te Handlung aber zu einem Schaden führt. Man nehme als Beispiel einen See. Wenn alle Fischer nur eine bestimmte Menge an Fisch fangen, dann kann sich die Fischbevölkerung gut reproduzieren. Wenn die Fischer den See allerdings überfischen, dann bricht die Bevölkerung der Fische irgendwann zusammen. Dabei macht es natürlich keinen Unterschied, wenn nur ein Fischer zu viel fischt, dass wirkt sich nicht negativ auf die Erhaltungsfähigkeit der Fische aus. Aber irgendwann gibt es einen Fischer, der den einen entscheidenden Fisch zu viel fängt, an welchem die Reproduktion der Fische scheitert.
Dieser Fischer stellt also den Trigger dar. Nun mag der Konsequentialist wieder argumentieren, dass seine Handlung nicht negativ ist, solange er den Trigger nicht bedient. Doch auch dieses Argument lässt sich schnell aushebeln. Wenn der Trigger beim n-ten Fischer aktiviert wird, du aber schon vor diesem Fischer mehr gefischt hast, als du solltest, dann würde der n-te Fischer den Trigger ohne dich nicht aktivieren, da er dann nur der n-1te Fischer wäre. Sobald es also einen Trigger in der kollektiven Handlungskette gibt, trägt jeder Akteur eine anteilige Mitschuld.
Und wenn es keinen Trigger gibt, dann muss ohnehin jede Veränderung selbst zu negativen (wenn auch sehr kleinen) Konsequenzen führen und ist damit auch aus Sicht eines Konsequentialisten nicht wünschenswert.
Zum Weiterlesen:
https://cpb-us-w2.wpmucdn.com/campuspress.yale.edu/dist/7/724/files/2016/07/Do-I-Make-a-Difference-29uqrr1.pdf