Intellektuelle Integrität & Dunkle Räume
„I concluded that what we call 'intelligence' is as much about virtues such as honesty, integrity, and bravery, as it is about 'raw intellect’.” – Nabeel Qureshi in seinem Essay “How To Understand Things”
Eine elementare Eigenschaft von intelligenten Menschen ist ihr tiefgründiges Verständnis komplexer Thematiken.
Grundlage dafür sind diverse genetisch angelegte Eigenschaften wie eine schnelle Auffassungsgabe, die Fähigkeit logisch zu denken, …
Mindestens ebenso wichtig ist die Geisteshaltung der intellektuellen Integrität. Intellektuelle Integrität bedeutet, eine Antwort erst dann zu akzeptieren, wenn man sie wirklich versteht.[i]
Gleichzeitig beinhaltet intellektuelle Integrität einen sehr hohen Standard für wirkliches Verständnis. Erst, wenn man eine Thematik aus diversen Perspektiven betrachtet hat und den Lösungsprozess nachkonstruieren kann, hat man wahres Verständnis.
Bestes Beispiel für intellektuelle Integrität war der Physiker Michael Faraday. Bevor er ein Experiment nicht selbst durchgeführt hat, war er auch nicht bereit, die Erkenntnisse des Experiments zu übernehmen. Die Arbeiten anderer zu lesen, war für ihn zu wenig.
Damit verkörpert Faraday auch die Antwort auf die Frage, wie man tiefgründiges Verständnis überhaupt erreichen kann.
Taimur Abdaal verwendet dazu die Metapher eines dunklen Raumes.
Gerade im Zuge der akademischen Ausbildung läuft ein Großteil des Lernens so ab, dass man sich Bilder dieses Raumes in einem erhellten Zustand ansieht. Diese Methode des Lernens ist zwar nicht sonderlich spannend, dafür aber umso schneller - ein Blick auf das Bild reicht für ein oberflächliches Verständnis.
Im Gegensatz dazu steht die intellektuell integre Vorgehensweise: Man begibt sich zuerst in den dunklen Raum. Immer wieder stolpert man über Gegenstände, läuft gegen Wände …
Durch diesen Prozess des Erforschens entwickelt man ein intuitives Modell des Raumes und bekommt gewisse grundlegende Vorstellungen. Gleichzeitig kommen diverse Fragen auf, die man in der Dunkelheit nicht beantworten kann.
Nachdem man den Raum eigenständig durchforscht hat, wendet man sich ebenfalls dem besagten Bild zu. Der Blick auf das Bild wird aber logischerweise ein ganz anderer sein. Ein Heureka-Moment wird den nächsten jagen. Manche Teile des mentalen Modells werden bestätigt, andere Teile werden falsifiziert.
Wer den Lernprozess mit direkter Erfahrung verbindet wird in der Regel ein weitaus tiefgehenderes Verständnis entwickeln, als mit Theoriearbeit allein möglich wäre.
Zum Weiterlesen:
https://www.notoverthinking.com/episodes/stratified-sampling
https://nabeelqu.co/understanding
https://taimur.me/posts/learn-by-exploration-then-by-theory/
[i] Diese Geisteshaltung ist wohl auch Schuld daran, dass Menschen mit dem höchsten IQ nicht unbedingt die größten intellektuellen Meisterleistungen zu Stande bringen. Denn in vielen Bereichen ist intellektuelle Integrität mehr wert als eine wahnsinnig hohe genetisch veranlagte Intelligenz.