Die Revolution, die nicht passierte
Im 14. Jahrhundert war China die klare Weltmacht in Sachen technologischer Innovation.
Auf dem Bereich der Landwirtschaft entwickelten die Chinesen enorm fortgeschrittene Pflug- und Saatmaschinen.
Im späten 11. Jahrhundert produzierte China gut 150.000 Tonnen Eisen – was auf einer pro-Kopf-Basis dem fünf- bis sechsfachen der europäischen Produktion entsprach.
In der Textilindustrie arbeiteten die Chinesen bereits im 13. Jahrhundert mit Maschinen, die in Europa erst 400 Jahre später Einzug erhielten.
Im Grunde war das Land damals reif für eine Industrielle Revolution. Doch diese Revolution kam nicht. Ganz im Gegenteil: Die Innovationsrate der Chinesen nahm ab und im Zuge der Industriellen Revolution übernahm Europa die technologische Vorherrschaft.
Wieso es zu dieser Entwicklung kam, ist bis heute ein Rätsel für Wirtschaftshistoriker – das sogenannte Needham-Rätsel.[i]
Justin Yifu Lin, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, sieht die Lösung des Rätsels in der Art und Weise technologischer Innovationen.
In früheren Zeiten funktionierte Innovation durch Erfahrung und Zufall. Ein schlauer Bauer probierte verschiedene Methoden zum Anbauen von Reis aus. Ein gewiefter Kriegsherr erprobte neue Waffensysteme. Diese Entwicklungen basierten großteils auf intuitiven Ideen darüber, wie die Natur funktioniert – in manchen Fällen war es auch einfach nur Zufall.
In Anbetracht dieser Innovationsform ist es nicht sonderlich überraschend, dass China so fortschrittlich war. Bis 1300 hatte China circa doppelt so viele Einwohner wie Europa. Je mehr Einwohner, desto höher die Chance zufälliger Innovationen.
Das Problem: Je komplexer die Technologien werden, desto schwerer werden zufällige Entdeckungen.
Genau hier kommt der Unterschied zwischen dem China des 14. und dem Europa des 18. Jahrhunderts zum Tragen. Europa durchlebte vor der Industriellen Revolution eine wissenschaftliche Revolution.
Dadurch änderte sich auch die Innovationsform. Wissenschaftliche Berechnungen und Experimente haben vermehrt die Rolle von Zufall und Erfahrung übernommen.
Bei wissenschaftlichen Experimenten spielt schließlich die Größe der Bevölkerung keine so entscheidende Rolle mehr. Viel wichtiger ist, wie viele Bürger mit wissenschaftlichen Methoden vertraut sind und damit zum Fortschritt beitragen können.
Stellt sich nur die Frage, weshalb es bei den Chinesen nicht zu dieser wissenschaftlichen Revolution kam. Justin Yifu Lin sieht den Grund dafür in unterschiedlichen Herrschaftssystemen.
Die Karriere eines erfolgreichen Bürokraten war der Traum eines jeden Chinesen. Um die Position eines mächtigen Bürokraten zu erreichen, musste man aber eine enorm strikte Ausbildung absolvieren. Diese Ausbildung konzentrierte sich vor allem auf Philosophie, Literatur und Geschichte.
Die intelligentesten Bürger Chinas hatten also ganz einfach keine Zeit, um sich im Laufe ihrer Ausbildung mit naturwissenschaftlichen Prinzipien zu beschäftigen. Wenn sie dann einmal die Position eines mächtigen Bürokraten erreicht hatten, war die Freizeit ebenso sehr knapp bemessen.
In dieser Hinsicht war das Feudalsystem Europas ein Segen, denn es schuf in gewisser Weise den Freiraum für naturwissenschaftliche Bildung.
Zum Weiterlesen:
https://www.jstor.org/stable/1154499?seq=1
[i] Nach dem britischen Sinologen und Historiker Joseph Needham wird diese paradoxe Entwicklung als Needham-Rätsel bezeichnet. Die beiden Needham-Fragen lauten: Wieso war China so viel weiter fortgeschritten als der Rest der Welt? Wieso ist es China heute nicht mehr?