Scientabilität & Homöopathie – Achtung
Es scheint absurd, wissenschaftliche Studien über Maßnahmen durchzuführen, deren vorgeschlagene Wirkmechanismen dem aktuellen Stand der Wissenschaft widersprechen. Noch absurder scheint es, dass es für eine dieser Methoden, die Homöopathie, immer wieder Studien gibt, die einen Effekt belegen, der über einen normalen Placebo-Effekt hinausgeht.
Denn die Erklärung, dass Homöopathie aufgrund eines „geistartigen Effektes“ der Wirksubstanzen funktioniert, für die ein materielles Vorhandensein der Wirksubstanzen selbst gar nicht mehr nötig ist, widerspricht sehr gut belegten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Im Vergleich zu diesen wissenschaftlich gut belegten Erkenntnissen, wie dem Dosis-Wirkung-Prinzip, ist die Evidenzkraft von wissenschaftlichen Studien gering. Denn gerade im Bereich der Medizin sind die Studien und ihre Erkenntnisse nur statistische Natur. Wenn aber eine klinische Studie e.g. ein Konfidenzintervall von 90% hat, wird in 10% aller Studien ein falsch positives Ergebnis herauskommen. Auf Basis des Publication Bias fällt das Bild wahrscheinlich sogar noch drastischer aus, da man positive Ergebnisse eher publiziert als negative.
Auf Basis dieser Argumentationslinie spricht sich Christian Weymayr in seinem Paper „Scientabilität – ein Konzept zum Umgang der EbM [evidenzbasierten Medizin] mit homöopathischen Arzneimitteln“ dagegen aus „sichere Erkenntnisse mit einer unsicheren Prüfmethode belegen oder widerlegen zu wollen“.
Laut dem Prinzip der Scientabilität sollen medizinische Maßnahmen nur dann in klinischen Studien untersucht werden dürfen, wenn sie sicheren Erkenntnissen nicht widersprechen. Er argumentiert dies damit, dass man die a-priori-Plausibilität von Homöopathie auf 0 setzen kann, womit jegliche Ergebnisse aus klinischen Studien von vornherein irrelevant sind.
Einleuchtend aber gefährlich
Das Konzept der Scientabilität klingt erst einmal sehr einleuchtend, doch es birgt große wissenschaftliche Risiken. Zum einen macht es sicherlich Sinn, die a-priori-Plausibilität bei der Bewertung von Studien in Betracht zu ziehen.
Doch Christian Weymayr beschreibt selbst, dass es keine vollkommen sichere Erkenntnis gibt. Und wie der Mathematiker Josef Mattes in seinem Artikel „Scientabilität – eine Antwort auf Homöopathie“ anmerkt, ist eine A-Priori-Wahrscheinlichkeit von exakt Null nötig, damit man einen gewissen Sachverhalte nicht mit genügend starker Evidenz belegen kann. Und eine A-priori-Wahrscheinlichkeit von exakt Null gibt es eben nur bei vollkommen sicherer Erkenntnis.
Und noch einen weiteren, viel entscheidenderen, Punkt missachtet Weymayr bei seinem Konzept der Scientabilität. Nur weil ein bestimmter vorgeschlagener Wirkmechanismus den wissenschaftlichen Grundlagen widerspricht, bedeutet das nicht, dass es nicht einen anderen Wirkmechanismus geben kann, an den bisher niemand gedacht hat, der aber nicht im Konflikt mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Bei diesem Fokus auf den einzigen vorgeschlagenen Wirkmechanismus handelt es sich um den Denkfehler der narrativen Verzerrung.
Nur weil also die Erklärung einer immateriellen Wirkung von Substanzen aktuell sehr im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen steht, heißt das nicht, dass es womöglich eine andere Erklärung für homöopathische Substanzen gibt - auch wenn das zugegebenermaßen äußerst unrealistisch erscheint.
Aber genau auf diese Diskussion muss man sich auch gar nicht einlassen. Es ist jedem gebildeten Menschen klar, dass eine einzige Studie noch keinen Beweis darstellt und wenn der Großteil der Studien bezeugen, dass Homöopathie keine Wirkung hat, die über die Placebo-Wirkung hinausgeht, dann kann man die Wirkung für Homöopathie selbstverständlich auch auf Basis klinischer Studien widerlegen.
Damit läuft man weder das Risiko ein medizinisches Verfahren von vornherein abzulehnen, das tatsächlich funktioniert und man erspart sich die Diskussion mit Befürwortern der Homöopathie. Würde man das Konzept der Scientabilität nämlich anwenden, ist der zu erwartende Backlash aus der Homöopathie Community nicht auszumalen, die sicherlich kreative Wege finden würde, das Ganze für den eigenen Vorteil zu nutzen.
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1865921713002547
http://nachgefragt-podcast.de/2018/06/14/ngf014-was-ist-evidenzbasierte-medizin/
https://www.mat.univie.ac.at/~mattes/PDF/einreichung-ZEFQ-revidiert-web.pdf