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Selbstzerstörung der Gruppe

Zu Beginn des Computerzeitalters gab es in Sachen Software nur ein Ziel: Die Software muss ein spezifisches Problem lösen. Wie die Software das tat, war mehr als zweitrangig, da schlussendlich ohnehin nur Experten die Maschinen bedienten.

Je mehr der Computer aber in die Hände von normalen Nutzern ohne technischen Hintergrund kam, desto mehr spielte die einfache Nutzbarkeit eine entscheidende Rolle. Heute designet kaum ein Software-Ingenieur seine Programme, ohne auch an die Nutzbarkeit zu denken.[i]

Doch bereits 2003 hat Clay Shirky in seiner Keynote „A Group is its own worst enemy” festgestellt, dass ein ganz neuer Faktor Einzug in die Softwarebranche erhalten hat: Soziale Software.

Soziale Netzwerke und Kommunikationsplattformen haben nicht nur die Aufgabe, möglichst simple Wege der Kommunikation bereitzustellen. Zu einem gewissen Teil ist es auch die Aufgabe der Ingenieure, dass diese Kommunikation erfolgreich ist.

Und während diese Aussage ziemlich offensichtlich scheint, kämpfen wir auch 17 Jahre später noch mit den Implikationen dieser Idee.

So ziemlich jeder erfahrene Internetnutzer wird während seiner Laufbahn den Kollaps eines Forums oder die vollkommene Eskalation einer Diskussion erlebt haben. Bis heute wird wöchentlich über die Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken diskutiert. Bis heute haben wir keine gute Lösung für einen menschlichen Umgang im Internet gefunden.

Laut Shirky ist dieses Phänomen kein spezifisches Problem des Internets. Vielmehr handelt es sich dabei um eine natürliche negative Gruppendynamik.

Er bezieht sich auf den Psychologen Wilfred Bion, der solche Dynamiken im Zuge von Gruppentherapien immer wieder beobachtet hat. Denn ohne externe Kontrolle oder interne Regeln fallen Gruppen oft auf eine von drei Verhaltensweisen zurück:

  1. Die Gruppe besinnt sich auf die ursprünglichsten menschlichen Triebe und die Gespräche drehen sich großteils um Sexualität.

  2. Die Gruppe besinnt sich auf die Verteufelung eines gemeinsamen Feindes.

  3. Die Gruppe verhält sich nahezu religiös und fokussiert sich sektenartig auf scheinbar allgemeingültige Weisheiten.

Je größer die Gruppen werden, desto höher die Gefahr, dass sich diese Gruppendynamiken manifestieren. Doch natürlich gibt es auch einige Communities im Internet, die davon nicht so stark betroffen sind.

„The groups’ goals sometimes differ from those of the individual members, and the user of social software is the group, so ease of use should be for the group.” – Clay Shirky seiner Keynote „A Group is its own worst enemy”.

Den Grund sieht Shirky vor allem darin, dass diese Gruppen eine gewisse interne Struktur entwickelt haben. So gibt es in erfolgreichen Foren oder in der Wikipedia-Community einige Nutzer, die über den anderen stehen. Sie haben sich über lange Zeit einen guten Ruf erarbeitet und haben nun eine höhere Stellung als andere.

Das mag zwar nicht dem Freiheitsgedanken vieler Internet-Fans entsprechen, schlussendlich führt diese Hierarchie aber dazu, dass eine positive Kultur erhalten bleibt.

Der entscheidende Gedanke von Shirky: Soziale Software ist für Gruppen da. Der wirkliche Nutzer der Software ist also die Gruppe und dafür muss sie auch optimiert sein. Dabei kann Optimierung für die Gruppe durchaus bedeuten, dass die Nutzbarkeit für den einzelnen Nutzer eingeschränkt oder verschlechtert wird.[ii]

Zum Weiterlesen:

https://www.gwern.net/docs/technology/2005-shirky-agroupisitsownworstenemy.pdf

[i] Das ist natürlich stark übertrieben, weil viele Ingenieure am Backend arbeiten, was nicht direkt mit der Nutzererfahrung zu tun hat.

[ii] Beispielsweise kann man auf den Seiten von Stack Exchange als neuer Nutzer nicht sofort alles kommentieren, liken und so weiter – man muss sich erst eine gewisse Reputation aufbauen. Das mag für neue Nutzer nervig sein, sorgt aber dafür, dass diese Foren trotz ihrer enormen Größe wirklich gut funktionieren.