Kriminalitätsfurcht als Sammelbecken
Während die Bürger vieler westlicher Staaten in einem Umfeld enorm geringer Kriminalität leben, spricht ihre Furcht vor Verbrechen eine ganz andere Sprache. Denn schon lange ist klar: Angst vor Kriminalität ist nicht Angst vor tatsächlicher Kriminalität.
Menschen, die bereits Opfer von Kriminalität wurden oder Kriminalität in ihrem Umfeld erleben mussten, haben nicht unbedingt das stärkste Furchtempfinden. Viele Personen haben sogar Angst vor Kriminalität, obwohl sie persönlich noch nie davon betroffen waren.
Wer ist dann schuld? Natürlich die Medien. Zeitungen und Fernsehen inszenieren die Kriminalität und dramatisieren selbst kleine Verbrechen. Logisch, dass die Bevölkerung ein verzerrtes Bild der Bedrohungslage hat. Diese Schuldzuschreibung klingt erstmal logisch und kommt, wie jeder Rundumschlag gegen die Medien, bei vielen gut an. Doch sie ist falsch.
Wie Helmut Hirtenlehner in seinem Artikel „Kriminalitätsangst – klar abgrenzbare Furcht vor Straftaten oder Projektionsfläche sozialer Unsicherheitslagen?“ darlegt, hat Furcht vor Kriminalität oft gar nichts mit Kriminalität oder ihrer medialen Aufbereitung zu tun.
„Kriminalität wird damit zum kleinsten gemeinsamen Nenner einer Fülle anders gelagerter – sozialer, kultureller, ökonomischer, ökologischer und politischer – Unsicherheiten.“ – Helmut Hirtenlehner.
Furcht vor Kriminalität ist in vielen Fällen vor allem eine Metapher für ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit und Angst. So zeigt sich in diversen Studien, dass Menschen in sozial schwächeren Schichten mehr Angst vor Kriminalität haben.[i]
Kriminalitätsangst hängt hier also eng mit Existenzängsten und einer unsicheren Stellung in der Gesellschaft zusammen. Damit ist die Furcht vor Kriminalität ein weiteres Beispiel für die Affekt-Heuristik von Paul Slovic.
Einen weiteren Beleg für diese These liefert die Wiedervereinigung Deutschlands. Nach dem Zusammenschluss war die Kriminalitätsfurcht im Osten höher als im Westen. Mehr Kriminalität gab es im Osten allerdings nicht.
Diese Feststellungen sind nicht nur von intellektueller sondern auch von politischer Relevanz. In einigen Studien konnte ein starker Zusammenhang zwischen dem sozialen Sicherheitssystem eines Staates und der Kriminalitätsfurcht der Bürger festgestellt werden. Anstatt also die polizeiliche oder gar militärische Präsenz auf den Straßen zu erhöhen, ist eine Investition in die soziale Sicherheit wohl die effektivere Maßnahme zur kriminalitätstechnischen Angstreduktion der Bevölkerung.
Zum Weiterlesen:
https://www.academia.edu/5285167/Kriminalit%C3%A4tsangst_klar_abgrenzbare_Furcht_vor_Straftaten_oder_Projektionsfl%C3%A4che_sozialer_Unsicherheitslagen
[i] Die These liegt natürlich nahe, dass die tatsächliche Kriminalität in solchen Bevölkerungsschichten höher ist. Hierbei handelt es sich aber auch um ein relatives Angstempfinden. Sprich: Angst pro tatsächlicher Kriminalitätseinheit ist höher.