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Vorlaufzeitbias - der Diagnosehype

Ich war immer ein großer Freund der Früherkennung. Lieber einen Test mehr als einen Test zu wenig. Die Krankheit lieber vor den Schmerzen diagnostizieren als danach.

Auch die Statistiken scheinen diese intuitive Vorliebe zu bestätigen. So zählt die Prostatakrebsuntersuchung in den USA seit den 1980er Jahren zu einem Routineverfahren. In Großbritannien wird hingegen nur getestet, wenn Symptome auftreten.

Das Resultat: Die Überlebensrate von Prostatakrebs ist in den USA um ein Vielfaches höher als in Großbritannien.

Gleichzeitig sterben in den Vereinigten Staaten von Amerika relativ gesehen gleich viele Männer an Prostatakrebs wie in GB. Auch leben die Patienten in den USA nicht bedeutend länger als in Großbritannien.

Grund für diese paradoxe Sachlage ist ein Phänomen, welches Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Risk savvy“ als Vorlaufzeitbias bezeichnet.[i]

Die Überlebensrate gibt nämlich lediglich an, wie lange Patienten nach ihrer Diagnose weiterleben. Besonders bekannt ist die Fünfjahresüberlebensrate – diese besagt welcher Anteil der Patienten fünf Jahre nach der Diagnosestellung noch am Leben ist.

Die Krux an der Geschichte ist folgende: In den USA wird Prostatakrebs einfach früher diagnostiziert. Selbst wenn die Amerikaner also mit dem gleichen Alter sterben wie die Briten, ist ihre Überlebensrate höher, weil sie ihre Diagnose früher erhalten haben.

In gewisser Hinsicht ist die höhere Überlebensrate für den Patienten sogar negativ. Nehmen wir an, alle Prostatakrebspatienten in Großbritannien erhalten ihre Diagnose mit 68 und sterben mit 71. Sie müssen also nur drei Jahre mit der Sorge leben, dass sie Krebs haben.[ii]

Die Amerikaner bekommen die Diagnose schon früher – beispielsweise mit 60 – sterben aber ebenfalls mit 71. Sie müssen ganze 11 Jahre mit ihrer Diagnose leben.[iii]

Die Überlebensrate allein sagt so gut wie gar nichts über die Sinnhaftigkeit von Diagnosen aus. Und dennoch fallen Patienten, Politiker und sogar Ärzte dem Vorlaufzeitbias immer wieder zum Opfer.

Zum Weiterlesen:

Gigerenzer, Gerd: Risk savvy. How to make good decisions. New York: 2014. [i]

 

[i] Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Englischen und wird dort als lead time bias bezeichnet.

[ii] Es handelt sich hierbei um ein fiktives Beispiel.

[iii] Auch diese Zahlen sind rein fiktiv gewählt.

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