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Vorstellungskraft - Gefahr für Sicherheit

Im Zuge des Kalten Krieges hat eine ganz neue Art des Denkens Einzug in die Sicherheitspolitik erhalten. Das Denken in Szenarien wurde damals populär, denn klassische Experimente kann man in einem Nuklearkrieg nicht durchführen. Schon die wichtige Eigenschaft der Wiederholbarkeit eines Experiments ist nicht gegeben, wenn ein einziger Fehlversuch das Ende der Menschheit bedeuten kann.

Was damals begonnen hat zieht sich bis heute durch und wird immer populärer, wie die Philosophin Jutta Weber in ihrem Paper „Wild Cards. Imagination als Katastrophenprävention.“ beschreibt.

Wild Cards sind Bedrohungen, die zwar enorm unrealistisch sind, bei ihrem Eintreten aber drastische Konsequenzen haben würden. Also beispielsweise Roboterinsekten, die ganze Städte ausrotten, oder die Erpressung von Menschen auf Basis ihrer DNA-Daten.

Doch anders als in Zeiten des Kalten Krieges, wo sich die Szenarien immerhin auf ein konkretes Themengebiet beschränkten, greift das Szenariendenken heute in alle Lebensbereiche über. Genau hier liegt auch der Kritikpunkt von Jutta Weber.

„Es ging mir darum, aufzuzeigen, dass das sich zunehmend ausbreitende Szenario-Denken hochproblematisch ist – nicht zuletzt, wenn nur noch mit schwammigen Possibilitäten jongliert wird, also nicht mit Wahrscheinlichkeiten, sondern mit wilden, unrealistischen Spekulationen darüber, was theoretisch alles Schreckliches passieren könnte.“ – Jutta Weber in einem Interview mit Sibylle Berg.

Je mehr Szenarien man bedenkt, desto mehr Bereiche muss man sicherheitstechnisch behandeln. Vor allem führt das zu ausufernder Überwachung und extensiver Datensammlung. Dabei entwickelt sich ein Teufelskreis: Wie dem gebildeten Menschen sein Unwissen immer bewusster wird, realisiert auch der risikobewusste Mensch mit jedem neuen Szenario etliche weitere Gefahren. Damit eröffnet sich aber eine Spirale, die schlussendlich nur in einem totalen Sicherheitsstaat enden kann.

Wie so oft werden außerdem die unsichtbaren Konsequenzen eines starken Szenariodenkens- und Planens missachtet. Jutta Weber beschreibt, dass die Forschungsmaßnahmen zur Prävention von Biowaffen und Co. selbst einen entscheidenden Risikofaktor darstellen. Je mehr Labore mit pathogenen Substanzen herumhantieren, desto höher die Gefahr, dass solche Substanzen willentlich oder unwillentlich nach Außen treten.

Je mehr Daten unsere Staaten zur Überwachung der eigenen Bürger beziehungsweise zur Katastrophenprävention ansammeln, desto höher auch der negative Einfluss einer Cyberattacke auf staatliche Datenbanken.

Die letzte und wichtigste unsichtbare Konsequenz ist eine Bevölkerung, die Überwachungsmaßnahmen toleriert und begrüßt, weil sie durch medial propagierte mögliche Gefahren die wahre Bedrohungslage überschätzt.

Zum Weiterlesen:

https://juttaweber.eu/wordpress/wp-content/uploads/2014/08/Weber_Katastrophenpraevention.pdf

Berg, Sibylle: Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen. Köln: 2020.