Physik & die Macht der Minderheiten
Serge Galam ist einer der führenden Wissenschaftler der Soziophysik, also der Anwendung von physikalischen Modellen und Denkweisen auf soziale Phänomene. Eines seiner spannendsten Themen: Minderheitsdynamiken.
Auf den ersten Blick wirkt es absurd, die Physik zur Modellierung sozialer Phänomenen zu verwenden. Allerdings ist die Physik sehr gut darin, von einzelnen Partikeln auf größere dynamische Prozesse zu schließen, also statistische Mechanismen zu analysieren. Auch modelliert man in der Physik schon lange Phasenübergänge (beispielsweise von fest auf flüssig) und hat sehr gute Modelle, um diese Phasenübergänge in Abhängigkeit von diversen Faktoren zu beschreiben.
Genau mit solchen Phasenübergängen und dem Rückschließen von einzelnen Akteuren auf große Zusammenhänge beschäftigt sich die Soziophysik. Man schließt von der Meinung und Geisteshaltung einzelner Gruppen auf das Verhalten der Gesamtwählerschaft. Man analysiert wie durch die Interaktion weniger Wähler untereinander massive Bewegungen im gesamten Wählerverhalten entstehen. Die Phasenübergänge spielen ebenfalls eine große Rolle. Unter welchen Anfangsbedingungen wird die Stimmung in der Bevölkerung kippen, wird sich eine Meinung oder ein Kandidat überraschend durchsetzen?
Minoritätsdynamiken
Minoritätsdynamiken sind ein Kernthema bei Serge Galam. Dabei beschäftigt ihn die Frage, unter welchen Voraussetzungen Minderheitspositionen im Laufe eines Wahlkampfs zu Mehrheitspositionen werden. Dazu hat Galam unter anderem drei verschiedene Modelle entwickelt, die so eine Meinungstransformation erklären können. Auf diese drei wird im Folgenden kurz und prägnant, ohne die mathematischen oder technischen Aspekte, eingegangen.
Zuerst einmal geht Galam in all seinen Modellen von einem öffentlichen Diskurs aus, im Zuge dessen sich die Wähler immer wieder in kleinen Gruppen treffen. Er vergleicht das mit dem Treffen bei der Arbeit, im Restaurant oder bei kulturellen Events. Grundsätzlich geht man davon aus, dass alle Gruppenmitglieder nach dem Treffen die Meinung der Gruppenmehrheit übernehmen.
Reformen
Besonders spannend ist aber, was in diesen Gruppen passiert, wenn es in einer Gruppe keine Mehrheit gibt, sondern ein Gleichgewicht der beiden Meinungen.
Ein Modell von Serge Galam geht davon aus, dass sich in dieser Situation die Meinung durchsetzt, welche dem Status-Quo entspricht. Dieses Modell kann man psychologisch gut argumentieren, schließlich mögen wir Menschen Veränderungen ungern. Außerdem wirkt laut dem psychologischen Konzept der Verlustaversion ein Verlust des Status-Quo viel schwerwiegender als ein Gewinn, der durch eine neue Situation entsteht.
Nach diesem Modell zeigt sich, dass Reformen, welche zu Beginn eines Wahlkampes vom Großteil der Bevölkerung unterstützt werden, mit der Zeit immer unbeliebter werden, sodass eine kleine Minderheit zu Beginn im Laufe des Wahlkampes zu einer Mehrheit gegen die Reform anwächst. Als Beispiel nennt Serge Galam den Brexit, bei dem viele, vor allem ältere Menschen, die Mitgliedschaft bei der EU als das Neue ansehen, und im Austritt aus der EU die Wiederherstellung des Status-Quo eines vollkommen freien Staates sehen.
Aus diesem Grund hält Serge Galam beispielsweise Reformen zu einem Verbleib in der EU in den meisten Staaten für nicht sinnvoll. Denn selbst wenn am Anfang die Mehrheit die EU befürwortet, wird sich gemäß der Minoritätsdynamik im Zuge des Wahlkampfes eine Mehrheit gegen den Verbleib herauskristallisieren.
Versteckte Vorurteile
In einem anderen Modell geht Galam davon aus, dass sich bei einem Gleichgewicht der Meinungen die Meinung durchsetzt, welche den versteckten Vorurteilen der meisten Mitglieder entspricht. Auf Basis dieses Modells hat Galam auch den Präsidentschaftssieg Trumps zu einer Zeit für realistisch erachtet, als die meisten Politikwissenschaftler Trumps Wahlsieg für ein Ding der Unmöglichkeit hielten.
Trump spricht mit seinen sehr extremen und von Vorurteilen erfüllten Aussagen nur eine Minderheit der Wähler direkt an. Die meisten Wähler halten seine Aussagen anfangs für untragbar. Allerdings lösen seine extremen Aussagen Diskussionen aus und wenn es bei diesen Diskussionen zu einem Gleichgewicht der Meinungen kommt, wird sich schlussendlich Trumps Meinung durchsetzen. Grund dafür ist, dass viele Menschen die Vorurteile, welche Trump aktiv vertritt, zwar nicht öffentlich teilen, sie unterbewusst aber dennoch in sich tragen.
Ein Beispiel dafür wäre die ausgeprägte Xenophobie Trumps oder seine Einstellung zu Frauen.
Inflexible Meinungen
Einen sehr spannenden Effekt auf Wählerdynamiken haben Personen mit inflexiblen Meinungen. Solche inflexiblen Wähler übernehmen die andere Meinung nicht, selbst wenn die Mehrheit ihrer Gruppe dieser Meinung ist.
In Serge Galams Modellen zeigt sich, dass eine Minderheit mit vielen inflexiblen Vertretern im Zuge eines Wahlkampes eine viel größere Mehrheit mit flexiblen Vertretern überzeugen wird. Aus dieser Perspektive ist es zu Beginn eines Wahlkampes nicht entscheidend, ob man eine Mehrheit auf seiner Seite hat. Wichtiger ist es, möglichst viele sehr überzeugte Vertreter auf seine Seite zu bekommen. Diese Dynamik hilft vor allem fundamentalistischen Parteien, welche sich ja quasi darauf spezialisieren, solche inflexiblen Vertreter anzuwerben.
Zum Weiterlesen:
https://physicsworld.com/a/the-physics-of-public-opinion/
Galam, Serge: The dynamics of minority opinions in democratic debate. Paris: 2003.
Galam, Serge u.a.: The role of inflexible minorities in the breaking of democratic opinion dynamics. Paris: 2007.
Galam, Serge: The Trump phenomenon an explanation from sociophysics. Paris: 2016.