Wahrscheinlichkeit als Wahrheit
Wir denken in absoluten Kategorien. Entweder ganz oder gar nicht, entweder wahr oder falsch, entweder schwarz oder weiß.
Dass diese Darstellung der Realität nicht gerecht wird, wissen wir. Was kann man aber tun, um besser zu denken und damit auch besser zu handeln?
Anfangen in Wahrscheinlichkeiten zu denken. Nicht mehr denken, dass man etwas weiß, sondern denken, dass man etwas mit einer Wahrscheinlichkeit von x für richtig hält.
In Wahrscheinlichkeiten zu denken, ist nicht nur viel realistischer, weil die meisten Thematiken nicht zu 100% richtig oder zu 100% falsch sind. Vor allem hilft das Denken in Wahrscheinlichkeiten den Biases, also den kognitiven Fehlern, die wir unbewusst machen, zu entkommen.
Ein wichtiger und sehr bekannter Bias ist der Confirmation Bias. Man filtert die Informationen so, dass man vor allem das wahrnimmt, was den eigenen Wahrheitsansichten entspricht und andere Informationen ausblendet. Annie Duke bezeichnet das in ihrem Buch „Thinking in bets“ als motivated reasoning, also ein gelenktes und beschränktes Denken, welches dazu führt, dass wir unsere Überzeugungen immer stärker festigen.
Denkt man in Wahrheiten ist der offene Umgang mit Informationen, Fakten und Argumenten enorm schwer und anstrengend. Wenn Dinge nämlich nur falsch oder richtig sein können, dann können wir eine uns entgegengesetzte Evidenz nicht einfach wahrnehmen. Wir müssen solche Informationen entweder diskreditieren oder unsere Meinung um 180° drehen. Und seine Meinung vollkommen zu ändern, fällt uns schwer, meistens diskreditieren wir deshalb konträre Informationen und Argumente.
Viel leichter ist die Ausgangsposition, wenn man ohnehin nur in Wahrscheinlichkeiten denkt. Jemand mag also beispielsweise zu 80% glauben, dass Atomkraftwerke vollkommen schlecht sind. Dann hört er über die großen Probleme, die durch Kohlekraftwerke verursacht werden und das Atomkraftwerke hier das geringere Übel sein könnten. Ein normaler Gegner von Atomkraft würde diese neue Information sofort ablehnen. Doch derjenige, der zu 80% glaubt, dass Atomkraft schlecht ist, kann diese Information aufnehmen und seine Position anpassen. Er hält Atomkraft dann beispielsweise nicht mehr mit einer Wahrscheinlichkeit von 80% für schlecht, sondern nur mehr mit einer Wahrscheinlichkeit von 75% oder 70%.
Gleichzeitig hilft das ständige Nachdenken über die Wahrscheinlichkeiten, mit denen man eigene Ansichten für richtig hält, bei einer gesunden Selbstreflexion. Welche Informationen hat man für diese Ansicht eigentlich? Hat man gute Quellen, Fakten und wissenschaftliche Beweise? Oder hat man diese Ansicht einfach irgendwo aufgeschnappt und seither nicht mehr hinterfragt?
Während man einen Umschwung zu dieser Denkweise nicht sofort und niemals vollständig schaffen kann, kann man daran arbeiten. Diese Arbeit lässt sich im Alltag ganz einfach einbauen. Bevor man also die nächste Meinung von sich gibt, überlegt man sich die Wahrscheinlichkeit, mit der die Meinung richtig ist, und diese Wahrscheinlichkeit denkt man sich nicht nur, sondern baut sie gleich in die Aussage ein.
Statt „soziale Medien führen zu Filter-Blasen in der Gesellschaft“ sagt man „ich glaube mit einer Wahrscheinlichkeit von 60%, dass soziale Medien zu Filter-Blasen in der Gesellschaft führen“. Und während man sich die Wahrscheinlichkeit dafür überlegt, dass die erste Aussage richtig ist, wird einem vielleicht auch bewusst, dass man eigentlich noch nie irgendwelche Daten, Fakten oder wissenschaftlichen Artikel zu diesem Thema gesehen, sondern das einfach irgendwo aufgeschnappt hat.
Denken in Wahrscheinlichkeiten macht also reflektierter, flexibler und offener. Gleichzeitig repräsentieren Wahrscheinlichkeiten die Welt immer besser, die nur sehr selten absolute Wahrheiten kennt.
Zum Weiterlesen:
Duke, Annie: Thinking in bets. Making smarter decisions when you don’t have all the facts. New York: 2018.
Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Ditzingen: 2018.