Wählen hoch zwei & moderne Demokratie
„Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried […]” – Winston Churchill.
Dieses Zitat wird immer wieder eingeworfen, wenn man auf Missstände und Probleme von demokratischen Systemen hinweist. Das Problem, dass immer die Mehrheit gewinnt. Das Problem, dass man bei einer Wahl nur sehr beschränkt ausdrücken kann, wie wichtig man etwas findet.
Doch seitdem dieses Zitat am 11. November 1947 geäußert wurde, sind einige Jahrzehnte ins Land gezogen. Es wurden unfassbare technische Möglichkeiten entwickelt. Auch in vielen theoretischen Bereichen von der Politikwissenschaft bis zur Spieltheorie hat sich einiges getan.
Und dennoch wählt man heute mit dem gleichen System wie vor 100 Jahren. Ja, im Grunde mit dem gleichen System wie vor 1000 Jahren. Tatsächlich gibt es aber sehr praktikable Überlegungen, denen wir im Diskurs rund um die Demokratie - vor allem auch rund um die direkte Demokratie - mehr Raum schenken müssen.
Eine solche Überlegung: Quadratisches Wählen. Die Idee stammt aus dem Paper „Quadratic Voting. How mechanism design can radicalize democracy.“ der beiden US-amerikanischen Wissenschaftler Steven Lalley und Glen Weyl.
Die entscheidende Idee: alle Wahlberechtigten, sei es in einem Staat oder in einer anderen Organisation, bekommen ein Kontingent an Stimmen. Bei Wahlen kann man selbst entscheiden, wie viele seiner Stimmen man verbrauchen will. Das hängt davon ab, wie wichtig einem das Thema ist. Wenn es also um etwas geht, das jemanden direkt betrifft, wird er mehr Stimmen investieren, als jemand, den die Entscheidung nur begrenzt tangiert.
Tangiert ist auch schon das entscheidende Stichwort. Denn in der bisher geschilderten Form ist das noch keine sonderlich innovative Idee. Tatsächlich würde so ein Konzept dazu führen, dass immer einige wenige, die das Thema für enorm wichtig halten, die Wahlen dominieren. Während die Intensität der eigenen Präferenzen bei einer normalen Wahl keine Rolle spielt, spielt sie hier eine viel zu große Rolle.
Das eigentliche Ziel ist ein proportionaler Zusammenhang zwischen der Anzahl an Stimmen, die man abgibt, und der Wichtigkeit, die ein gewisser Sachverhalt für jemanden hat. Dazu muss man sich vorstellen, dass im Stimmenkontingent keine konkreten Stimmen enthalten sind, sondern ein Guthaben an Abstimmungswährung. Der Einfachheit halber wird diese Abstimmungswährung als Stimmeneuro bezeichnet.
Die entscheidende Idee ist, dass die erste Stimme einen Stimmeneuro, die zweite Stimme zwei Stimmeneuro und die n-te Stimme n Stimmeneuro kostet. Wieso aber dann der Name quadratisches Wählen? Sollte man diesen proportionalen Zusammenhang nicht eher als lineares Wählen bezeichnen?
Das Quadrat bezieht sich auf die Gesamtkosten der eigenen Wahlbeteiligung. Und wenn ein Wähler n Stimmen abgibt, betragen seine Gesamtkosten Stimmendollar.
(Eine etwas genauere mathematische Darstellung dieser Idee findet sich in den Endnoten dieses Artikels).[i], [ii]
Indem man also diesen quadratischen Zusammenhang zwischen der Anzahl an Stimmen und den Kosten dieser Stimmen herstellt, ergibt sich ein proportionaler Zusammenhang zwischen der Anzahl an Stimmen, die man abgibt, und der Wichtigkeit, die man dem jeweiligen Abstimmungsthema zuschreibt.
In anderen Worten findet man eine perfekte demokratische Balance. Eine Balance, durch welche Wähler ihre Wünsche und Ideen in Wahlen auch wirklich flexibel zur Geltung bringen können. Eine Balance, die eine Herrschaft der Mehrheit über Minderheiten verhindert. Eine Balance, die Demokratie nicht nur zu dem besten System macht, das wir kennen, sondern auch dem besten, das man sich wünschen könnte.
Um mit dem Utilitaristen Jeremy Bentham abzuschließen, schaffen wir also eine Demokratie, die das größte Glück der größten Zahl hervorbringt. Und diese größte Zahl beinhaltet mehr als nur die Mehrheit.
Zum Weiterlesen & Weiterdenken:
https://vitalik.ca/general/2019/12/07/quadratic.html
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2003531
[i] Die einfachere Erklärung vom Ethereum-Gründer Vitalik Buterin: Die Grenzkostenfunktion, die die Kosten jeder neuen Stimme beschreibt, ist linear. Wie erläutert kostet also die n-te Stimme n Stimmendollar. Die Fläche unter dieser linearen Funktion bis zu einer gewissen Stimme n gibt die Gesamtkosten der Stimmen bis und inklusive der Stimme n wieder. Es handelt sich also um das Integral einer linearen Funktion und entsprechend um eine quadratische Funktion.
[ii] Die Erklärung aus dem genannten Paper: Ein Wähler zieht aus dem Ergebnis einer Wahl einen gewissen Nutzen . Der Nutzen seiner Stimme ergibt sich aus dem Nutzen multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit , die angibt, wie wahrscheinlich Option sich in der Wahl durchsetzen wird. Natürlich wird diese Wahrscheinlichkeit mit jeder Stimme, die der Wähler für die Option abgibt, erhöht. Der Nutzen seiner -ten Stimme ergibt sich also durch . Ein Wähler wird nun genau so lange mehr Stimmen abgeben, bis die Grenzkosten einer Stimme genau gleich dem Nutzen dieser Stimme sind. Die erste Ableitung der Stimmkostenfunktion muss also gleich dem Nutzen sein. Damit dieser Zusammenhang proportional ist, muss die Ableitung der Stimmkostenfunktion linear und damit die ursprüngliche Kostenfunktion eine quadratische Funktion sein.