Informell & Unsichtbar - Ökonomie
Eine der großen Stärken der ökonomischen Sicht auf das Weltgeschehen ist das Denken in unsichtbaren Konsequenzen. Schon bald lernt jeder Ökonom, dass er nicht nur die sofortigen Effekte von Handlungen beachten muss, sondern auch die oft sehr weitreichenden verdeckten Folgen.
Trotz dieser hilfreichen Denkweise sind die statistisch getriebenen Ökonomen immer noch sehr schlecht darin, kleine informelle Faktoren zu beachten. Diese informellen Faktoren sind nicht offensichtlich, solange man nur auf die Zahlen blickt. Diese Faktoren werden erst sichtbar, wenn man sich in die Realität der Menschen begibt.
Das Problem: Bei vielen Maßnahmen wird das Informelle missachtet. Dadurch kommt es zu keiner grundlegenden Lösung von Problemen. In manchen Fällen werden Situationen deshalb sogar verschlechtert.
Der Ökonom Richard Davies hat sich in seinem neusten Buch „Extreme Economies: Survival, Failure, Future. Lessons from the World’s Limits“ genau mit dieser Problematik beschäftigt, ist um die Welt gereist und hat mit den Betroffenen vor Ort gesprochen.
Das erste Beispiel für missachtete informelle Faktoren ist Santiago de Chile – die Hauptstadt Chiles. In Sachen Wohlstand ist Chile die Vorzeigenation Südamerikas. Gleichzeitig handelt es sich um das Negativbeispiel eines Landes, das mit einer enormen Ungleichheit zu kämpfen hat.
Anders als man erwarten würde, beschweren sich die Bürger in den verarmten Stadtbezirken von Santiago nicht vorerst über die hohen Löhne ihrer wohlhabenden Mitbürger. Auch ein Anstieg ihres eigenen Gehalts war nicht ihr größter Wunsch. Das größte Bedenken der Menschen vor Ort: Die Reichen zahlen für die gleichen Produkte weniger Geld.
Der Grund ist einfach. In den armen Bezirken leben die Menschen von der Hand in den Mund. Sie können es sich nicht leisten, Klopapier, Nahrungsmittel und andere Dinge in größeren Mengen zu kaufen. Darum werden in diesen Vierteln Klopapierrollen nicht in einem Paket, sondern einzeln verkauft. Auch Zigaretten kauft man nicht in Schachteln, sondern stückweise.
Dieser entscheidende Faktor der Preisdifferenzen geht aus den Statistiken nicht hervor. Dadurch werden potentielle Lösungen – wie spezielle kostengünstige Kreditkarten – außer Acht gelassen.
In manchen Fällen führt der fehlende Blick für das Informelle aber nicht nur zu keinen Lösungen, sondern gar zu weiteren Problemen.
Glasgow war abermals eine der florierendsten Städte Europas. Dabei stieg die Bevölkerungszahl von 1707 bis 1901 von circa 13.000 auf 960.000 Personen an. Um mit der enormen Bevölkerungsdichte umzugehen – die fast doppelt so hoch war wie im heutigen Dhaka in Bangladesch – entwickelte sich ein spezielles System an Miethäusern. In diesen Häusern lebten verschiedene Familien sehr eng zusammen, sodass sich eine stark vernetzte Community entwickeln konnte.
Diese Community war nicht nur auf sozialer Ebene wichtig, sie brachte auch die eine oder andere Finanzinnovation hervor. So gab es beispielsweise ein informelles Lotterie-/Kreditsystem namens ménage.
An einer typischen ménage nahmen 20 Personen teil. Das Ganze lief für 20 Wochen und jede Woche musste jeder Teilnehmer ein Zwanzigstel des Betrages einzahlen. Typischerweise ging es um einen Gesamtbetrag von etwa 2 britischen Pfund.
Nun wurde jede Woche ein Gewinner gewählt, der diesen Betrag mit nach Hause nehmen konnte. Jeder konnte aber nur einmal gewinnen, sodass nach 20 Wochen alle Personen ihren Einsatz wieder hatten.
Der Sinn dahinter?
Die frühen Gewinner bekamen einen zinsfreien Kredit. In vielen Fällen bekamen die ärmsten Teilnehmer die ersten paar Auszahlungen, da sie den zinsfreien Kredit am bittersten nötig hatten. Doch selbst die späteren Gewinner hatten einen Vorteil: für sie gab es jede Woche wieder den Anreiz, etwas Geld zur Seite zu legen.
Das Problem: Als der Staat die Glasgower Bürger mit modernen Hochhäusern unterstützen wollte, brach die enge Community der ehemaligen Mietshäuser zusammen und damit die informellen Innovationen wie die ménage. Doch gerade diese informellen Systeme haben den ärmsten Bürgern in vielen Fällen ein sorgenfreieres Leben beschert.
Zum Weiterlesen:
Davies, Richard: Extreme Economies: Survival, Failure, Future. Lessons from the World’s Limits. London: 2019.